Künstlerinnen und Künstler in der Overbeck-Gesellschaft Lübeck 1918 – 2018
Textbeiträge von Björn Engholm, Dorothee Glawe, Bettina Greiner, Ulrich Höhns, Jenns Howoldt, Jan Lokers, Antje Peters-Hirt, Christian Rathmer, Roswitha Siewert, Jörg-Philipp Thomsa, Jan Zimmermann und Oliver Zybok
Grußworte von Daniel Günther, Jan Lindenau, Angelika Richter, Max Schön, Wolfgang Pötschke, Meike Behm
Herausgeber: Oliver Zybok
Verlag: Kerber Verlag, Bielefeld – ISBN 978-3-7356-0556-6
Beitrag von Roswitha Siewert:
Seiten 320 – 330
Umwertung der Werte
Zur Geschichte der Overbeck-Gesellschaft 1961 – 1989
Die Eingrenzung einer fast dreißigjährigen Ausstellungsphase wird durch die beiden Daten 1961 und 1989 entscheidend geprägt. Das Jahr 1961 ist historisch akzentuiert durch den Bau der Berliner Mauer. Sie fällt im Jahr 1989. Zwei Eckdaten, die es in sich haben. Das Hauptfeld der politischen Auseinandersetzungen dazwischen wird als Kalter Krieg bezeichnet. Im Osten existiert die DDR, im Westen die BRD. Zweimal Deutschland, Deutschland als Einheit ist zunächst eine sehnsuchtsvolle Vision. Fast dreißig Jahre Kunstentwicklung sind zu betrachten, dies unter dem allgemeinen Aspekt der nationalen, europäischen, internationalen und globalen Sicht und ihrer Vermischungen, aber auch unter dem regionalen Aspekt einer »kunsttriebsamen« Kaufmannsstadt wie Lübeck. Die Overbeck-Gesellschaft bläst die Fanfaren zu neuen Kunstrichtungen, diskutiert in heißen Debatten das Für und Wider, regt auf den jährlich stattfindenden Jahresgabenausstellungen zum Kauf und Sammeln an. Man genießt das Erworbene, erfreut sich an Workshops, Sommerakademien, findet Geschmack an Kunstreisen und im Kreativurlaub. Es entsteht Selbstgestaltetes, das dem »Auch-Künstler« aus dem Alltag heraus ein neues Leben vorspiegelt. Neben subjektiven und gesellschaftlichen Aspekten wird der Blick frei auf einen Kunst-Kosmos im Regionalen mit Weltgeltung.
In drei Dekaden, den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren, werden die Weichen für einen kurzweiligen Kunsttrip gestellt. Ein Teil der Zeitgenossen lebt heute noch und kann aus der Erinnerung erzählen. In fünf massiven Konvoluten von Büchern, den Presseberichten, steht zusätzlich ein mannigfaltiges Archivmaterial schriftlicher Aussagen zur Verfügung; dazu noch Kataloge zu den einzelnen Ausstellungen, heutzutage das Nachschauen im Internet, die eigenen Erfahrungen und die Mitgliedschaft im Kunstverein: Das »livre vivant« blättert sich auf zum Fest einer einhundertjährigen feinen Dame der Lübecker Gesellschaft. Denn die Overbeck-Gesellschaft »sei eine seltene Blume, die auf dem dicken kulturellen Humus der alten Hansestadt gut gedeihe und auch im Lande Schleswig-Holstein Anerkennung genieße«. Wie vergehen, wenn schon das Unter-die-Lupe-Nehmen eines Jahres den Blick in alle möglichen Kunstrichtungen öffnet? 209 Ausstellungen von insgesamt 732, Nr. 364 bis Nr. 572, sind zu sichten.
Die 1960er-Jahre
Das erste Pressebuch 1957-1962 ist eine Einführung in die 1960er-Jahre, das zweite 1962-1967 und das dritte 1967-1973 betreffen ebenfalls dieses Jahrzehnt. Alle drei Bücher sind schriftliche Zeugen der »kecken Sturmwind-Metapher« der Overbeck-Gesellschaft.
Sie spielte mit in der ersten Liga der Kunsterneuerungen sowie deren permanenten Hinterfragungen und liefert das Archivmaterial zum Schreiben. Für diese Phase passt der Slogan: »L’art pour l’homme«: »Alles wird zum Versuch! Selbst unser eigenes Leben ist ein Versuch zum Menschen hin.« Diese auf den Menschen bezogene Sicht folgte der Haltung der internationalen Überblicksausstellung documenta in Kassel im Jahr 1955. In Lübeck wurde diese Sichtweise unterstützt durch die Museumsarbeit, die auf die Gegenwart gerichtet war, und nicht haltmachen sollte vor dem Kunstwerk unserer Tage: »Bleiben wir beim Abschluss der Sammlung mit den sogenannten historischen Stilen, so fehlt der Stachel für die Zukunft«, sagte Carl Georg Heise in einem Vortrag 1921; Moderne Kunst als Stachel für die Zukunft des Menschen, gegen das selbstzufriedene Ausruhen auf den künstlerischen Großtaten der Vergangenheit, das in Lübeck als eine beständige Gefahr erkannt wurde: Gegenwartskunst in der Overbeck-Gesellschaft als Muntermacher für die Stadt und als Gütesiegel aus der Stadt.
Die künstlerische Leitung in alleiniger Verantwortung hatte seit 1958 Hans-Friedrich Geist inne. Meist sind bis zu zehn Ausstellungen zu kuratieren. Vierzehn Jahre lang wird Geist die Geschicke des Lübecker Kunstvereins leiten: Er erweitert den Blick nach außen, öffnet zum Europäischen, zum Internationalen, vollzieht den Wechsel von der Ecole de Paris über Pop-Art hin zur amerikanischen Kunst. Nicht nur die Auswahl, auch die Kommentare, Führungen und Einführungen waren Anker, um nicht im Ozean der kontroversen Diskussionen unterzugehen. Ihm zur Seite stand in dieser Zeit ein vermittelndes, erklärendes Dreigestirn, das das Kunstgeschehen aus kunsthistorischer, künstlerischer und pädagogischer Sicht begleitete. Für diese Phase der Kunstinterpretation sind vor allem Abram B. Enns (Lübecker Nachrichten), Gurt Stoermer (Lübecker Morgen) und Gerda Schmidt (Lübeckische Blätter) verantwortlich. Sie boten ein geistiges Luftschnappen in der Fülle und den Wechselbädern der Kunstangebote, mit der schönen Gefahr, dass die vermittelte Vermittlung selbst zum Kunstwerk wurde. Das Jahr 1961 beginnt traditionell mit Fragen nach der Kunst in Schleswig-Holstein auf der Landesschau in Kiel, der die Jahresschau in Lübeck vorausging. Dagegen zeigen Ausstellungen mit großen Namen wie Oskar Schlemmer und Pablo Picasso das Beste, was in diesem Jahr zu haben war. Im Februar 1962 wurden einhundertfünfzig Fotografien des 1954 im Indochinakrieg getöteten Robert Capa gezeigt: Menschen im Krieg. »Keine Spur fröhlichen Landsknechtstums«, wie Dr. Georg Ramseger in seiner Eröffnungsrede anmerkte. Bilder aus fünf
Kriegen sind zu sehen. Im Januar 1964 werden Arbeiten des 1929 in Berlin geborenen Fotografen
Robert Lebeck gezeigt. Er erscheint mit der Fröhlichkeit eines amerikanischen Baseballspielers und
präsentiert eine Auswahl von einhundert Großformaten über die Städte Tokio, Moskau und Leopoldville (das heutige Kinshasa). Die Bilder zeigen ein Potpourri von vielfältigen kulturellen Einflüssen und Begebenheiten aus unterschiedlichen Regionen der Welt.
Auch die Karikatur war in diesem Jahrzehnt ein Thema. Ronald Searle stellte 1965 Bilder zum Thema Berliner Mauer aus. Was macht sein Engel auf der Mauer? Er weiß nicht, wohin er sich absetzen soll, nach West- oder Ostdeutschland! »Überall fängt Searle die besondere, nationale Absonderlichkeit der deutschen Teilung mit dem Zeichenstift ein und lässt den Betrachter lächeln in vermeintlicher eigener Überheblichkeit«. In der Ausstellung mit Karikaturen von Honore Daumiers im Jahr 1970 gab es einen Zeitsprung ins 19. Jahrhundert. Für John Heartfield und George Grosz wurde 1969 eine gemeinsame Ausstellung zur politisch engagierten Kunst des 20. Jahrhunderts ausgerichtet. Beide griffen wiederholt in politische Auseinandersetzungen ein, sodass es bereits in der Weimarer Zeit zu Verfolgungen, Verboten und Freiheitsstrafen kam. Zum Zeitpunkt der Ausstellung gehörten sie schon zur Kunstgeschichte. Zu Heartfields Collagen schreibt Abram B. Enns: »Unordnung als Wesen der bürgerlichen Ordnung«. Von Grosz wurden Zeichnungen gezeigt, die Else Lasker-Schüler einmal als »schwarzen Champagner«‘ bezeichnet hat. Eine Künstlerin, die In der DDR und BRD gleichermaßen geschätzt wurde, war Käthe Kollwitz. In beiden Teilen Deutschlands konnte man sich mit ihrem Werk identifizieren. Ihr 100. Geburtstag wurde in der Overbeck-Gesellschaft 1967 gefeiert. Ihre Werke waren hier bereits 1922 und 1928 ausgestellt worden. Sie ist die »Stimme des Schweigens aller Geopferten«, wie es Romain Rolland formulierte. »Um ihr Werk ganz zu verstehen, bedarf es eines bestimmten Klimas. Kriege und Not sind uns in den letzten Jahren geografisch fern gerückt. Durch den Nahostkonflikt sind wir nicht unmittelbar betroffen«, schreibt Gerda Schmidt. Victor Vasarelys Ausstellung 1966 bewirkt einen Streit: »Kunst ist das nicht«, donnert Rene Drommert in der Zeit, Werner Haftmann spricht von einer »Veranstaltung ohne Bild, Abbild, Sinnbild« und Abram B. Enns schreibt von einem »Gefügebau als rationalistische Bastelei statt Geist«. Dagegen feiert Curt Stoermer diese Op-Art genannte Variante der konstruktivistischen Kunst als »Oase der Reinheit« (1966) . Als reine sich im Optischen erfüllende Kunst der geometrischen Spielereien ist sie bei der Jugend ein Erfolg.
Die darauf folgende Ausstellung der Overbeck-Gesellschaft nannte sich Kontraste und bot Gelegenheit, gegensätzliche Bildauffassungen zu vergleichen und zu respektieren. Stoermer hält diese Ausstellung für verfehlt, Drommert dagegen ist voll des Lobes. Ausgestellt wurden Bilder von Max Ernst und Karel Appel sowie von Robert Rauschenberg und Josef Albers. Vier konträre Möglichkeiten des Künstlerischen: Logos und Emotion, Forschung und spielerischer Selbstgenuss, frei nach dem Konzept: Jeder Künstler, der spielt, macht Entdeckungen. Hans-Friedrich Geist schreibt dazu: »Die Kunst symbolisiert heute nicht mehr nur klassische Ordnung und Harmonie, sondern ebenso sehr manieristische Auflösung und Disharmonie, nicht mehr nur individuelle Aussage, sondern ebenso anonyme Manipulation, nicht nur Sichtbares, sondern ebenso Unsichtbares, nicht mehr nur Tempel ebenso sehr das Labyrinth. Jede dieser künstlerischen Möglichkeiten hat ihre eigene Notwendigkeit und Kontinuität im Gefüge der Zeit«.
Die Overbeck-Gesellschaft zeigt im Jahr 1967 als erster Kunstverein eine Pop-Art-Ausstellung in Deutschland. Sie wurde als didaktisch-aufklärerische Großtat von Geist gelobt. Alle großen Namen der Pop-Art fanden ihren Ausstellungsplatz im Overbeck-Pavillon, also Werke von Allen Jones, Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Tom Wesselmann, James Rosenquist, David Hockney, Robert Rauschenberg und vielen anderen. Sie wurde mit 3200 gezählten Besuchern ein großer Erfolg. Die Kritik spitzt die Federn: Aussagen wie »raffinierte Manipulationen« oder »Magie des Banalen« nahmen Bezug darauf, dass die Erzeugnisse der Massenmedien das Material für die Pop-Kultur lieferten. Sie war nicht Kritik, sondern Anpassung an die populäre Bildsprache. Eine neue Ära der Realität wurde eingeleitet. Oder veranschaulichte sie sogar die Wirklichkeit als Imagination?
Ist im Zeitalter der Massenkultur überhaupt noch eine Elitekunst möglich oder nötig? Gefragt ist der
kritische Normalverbraucher. Angeboten wurden zwei Tendenzen der Pop-Art: die figurative Darstellung mit Mitteln von Plakat, Reklame, Comic, Kino und Fotomaterial, meist mit ausgeklügeltem sexuellem Akzent. Oder abstrakte Signalbilder aus der Welt der Markierungen. Flaggen, Verkehrsschilder und so weiter. Pop-Art ist unmittelbar am Puls der Zeit. Das Dreigestirn der Kunstkritik in Lübeck reagierte: Stoermer schrieb von der »Wiedergeburt des Jugendstils«, Enns sprach von einer »gebastelten Bildwelt« und Schmidt gab der Pop-Art »eine journalistisch anmutende Note«.
Sie spielte mit in der ersten Liga der Kunsterneuerungen sowie deren permanenten Hinterfragungen und liefert das Archivmaterial zum Schreiben. Für diese Phase passt der Slogan: »L’art pour l’homme«: »Alles wird zum Versuch! Selbst unser eigenes Leben ist ein Versuch zum Menschen hin.« Diese auf den Menschen bezogene Sicht folgte der Haltung der internationalen Überblicksausstellung documenta in Kassel im Jahr 1955. In Lübeck wurde diese Sichtweise unterstützt durch die Museumsarbeit, die auf die Gegenwart gerichtet war, und nicht haltmachen sollte vor dem Kunstwerk unserer Tage: »Bleiben wir beim Abschluss der Sammlung mit den sogenannten historischen Stilen, so fehlt der Stachel für die Zukunft«, sagte Carl Georg Heise in einem Vortrag 1921; Moderne Kunst als Stachel für die Zukunft des Menschen, gegen das selbstzufriedene Ausruhen auf den künstlerischen Großtaten der Vergangenheit, das in Lübeck als eine beständige Gefahr erkannt wurde: Gegenwartskunst in der Overbeck-Gesellschaft als Muntermacher für die Stadt und als Gütesiegel aus der Stadt.
Im Jahr 1968 feierte die Overbeck-Gesellschaft ihr fünfzigjähriges Bestehen. Die Festivität wurde durch eine Rede von Carl Georg Heise gekrönt: Extravaganzen, Wandel, Wende wurden inhaltlich nicht mit rückläufigen Blicken, Wiederaufnahmen und Erfolgen belegt. Nicht die Tradition, sondern die Rebellion gab den Antrieb zum Weiterschreiten. Von den dreiundfünfzig ausgestellten Bildern wählte Heise drei Bilder aus, die ihn beschäftigten und in denen er Neues entdeckte: Horst Antes‘ Kauernde Figur von 1967, dargestellt »nicht mit abstrakten Darstellungsmitteln, sondern mit menschlichen Gliedmaßen«, Konrad Klaphecks Das Leben in der Gemeinschaft aus dem Jahr 1964, »radikal sich abwendend von jeder Abstraktion, simple Schuhstrecker führen ein eigenes Leben« und Georg Karl Pfahlers D-CC-1 (1967/68), ein Werk, das »uns an[springt], um uns nicht wieder los zu lassen«. Kunst als Experiment zu empfinden, und dabei zu erleben, wie sich geheime Sehnsüchte offenbaren, wie man mit Unter- und Abgründen umgehen könnte, Erhabenes und Erlösendes in Zahlen und Symbolen zu entdecken, sind Folgeerscheinungen, die die Arbeit der Overbeck-Gesellschaft bewirkt hat. Entscheidend ist nicht »L’art pour l’art«, eine reine kunstimmanente Aktion, sondern eine Kunst für den Menschen, in Beziehung zu ihm, mit ihm und für ihn:
»L’art pour l’homme« lautet die Devise. Die Kleine Documenta ist ein optimales Sammelergebnis. Die ausgewählten Bilder sollten jedes auf seine Weise das Grau des Alltags für den Betrachter erhellen. Sie zeigte zwar fünfzig Jahre künstlerischer Entwicklung, aber war auf achtzehn Jahre Rückblick reduziert, auf Bilder, die nach 1950 entstanden sind. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie in besonderer Distanz zur hektischen Aktualität der 4. documenta in Kassel empfunden wurde.
Die Ausstellungen der Overbeck-Gesellschaft in den 1960er-Jahren waren bahnbrechend für die Entwicklung eines Kunstverständnisses in Lübeck. »Die Kunst unserer Zeit steht mitten im Spannungsfeld der Fragwürdigkeit des Lebens«, so formulierte Geist. »Dieses Spannungsfeld ist heute wesentlich größer und weiter geworden durch die Auswirkungen von Wissenschaft und Technik durch die Vermehrung der Kommunikations- und Informationsmittel und die daraus folgende Umwertung aller Werte«. Damit ist der zu Beginn erwähnte »Stachel für die Zukunft« vielleicht gefunden.
Die 1970er-Jahre
1972 wechselt der erste Vorsitzende und die künstlerische Leitung in der Overbeck-Gesellschaft: Christoph Deecke löst Wilhelm Castelli ab, Hans-Friedrich Geist tritt aus gesundheitlichen Gründen zurück, daraufhin wird Ingrid Deecke zur neuen künstlerischen Leiterin gewählt. Diese Aufgabe hat sie bis 1989 inne. Sie setzte das hochgelobte Programm fort, überraschte aber auch durch zeitgemäße Akzente. Ein Hauptinteresse lag bei ihr auf monografischen Ausstellungen von Künstlern, die unmittelbar nach dem Krieg im Fokus einer nationalen wie internationalen Aufmerksamkeit standen, also von Vertretern einer ungegenständlichen Kunst wie Fritz Winter (1977), Emil Schumacher (1981), Gerhard Hoehme (1984), Wols (1985), Rupprecht Geiger (1986) und K. 0. Götz (1989). Aber Deeckes Blick war nicht nur rückwärtsgewandt, sondern berücksichtigte ebenso zeitgenössische Strömungen, was Einzelpräsentationen unter anderem mit László Lakner (1975), Andre Thomkins und Franz Erhard Walther (beide 1979) belegen. Gelobt wurde ihr künstlerischer Spürsinn. In ihren Ausstellungen überzeugte eine ausgleichende Harmonie der Gegensätzlichkeiten. Das vierte Pressebuch 1973-1983 hat ein inhaltlich bedingtes neues Layout, nicht nur Presseartikel mit gedruckten Fotos, auch Fotos vom Eröffnungspublikum, oft signiert, sind dokumentiert. Vertraut sind die Inszenierungen auf Vernissagen mit Kunst als bedeutungssteigernder Hintergrund, man ist im Gespräch mit Wein- oder Sektglas in der Hand.
»Ausstellungen werden zu gesellschaftlichen Ereignissen, anlässlich derer man Sekt serviert.« Fragen wie »Geht es mit der Kunst wirklich immer weiter?« oder »Was ist Laienmalerei, was Dilettantismus?« lassen nach dem Kunstboom in den 1960er-Jahren die Beschäftigung mit »Kunst« als alltäglichen Lebensstil erscheinen. Diese Zeit wird als Jahrzehnt der großen Ratlosigkeit bezeichnet. Happenings, Fluxus, ConceptArt und Minimal Art tauchen zwar auf, aber fanden zunächst wenig Interesse. Weiße oder schwarze Leinwände brachten – einmal gemalt – in der Wiederholung nichts Neues. Ende der 1970er-Jahre fällt man zurück in die gegenständliche Malerei beziehungsweise eine vom Gegenstand abstrahierende oder auch wilde abstrakte Malweise. Joseph Beuys, der das »Leben in seinem bedeutungslosen Fluss mit der Kunst versuchte zu identifizieren«, erscheint in einer ausgewählten Gruppenausstellung des Bonner Kunstmuseums im Pavillon der Overbeck-Gesellschaft. Wohin flieht die Overbeck-Gesellschaft in ihrem Kunstengagement?
Oder mischt sie als Kontrastprogramm auf, leistet Widerstand? Aber wie? Irritierend und belebend ist die Diskussion um den Realismus in der zeitgenössischen Kunst (mehrere Ausstellungen 1975), die Auseinandersetzung um die naive Malerei (1973) und das bewusste Engagement für die Kunst von Frauen, für Künstlerinnen (1974). Die Varianten des Realismus in den siebziger Jahren werden zum Themenschwerpunkt: László Lakners Abbilder des Realen verführen den Betrachter dazu, sie für die Vorbilder zu halten. Die Ausstellung Drei Japaner zeigt das innige Erleben der Wirklichkeit und der Natur mit dem Weltgeschehen (1975). Bei den Berliner Realisten (1973) ist die politische Schärfe und Prägung des Realismus bestimmend: das »Prinzip Realismus«. Nackten Fußes kommt der Realismus aus Schweden auf die Wiese und auf die Bilder (1975). Dreimal Landschaft zeigt die Natur als konstruktives Versatzstück, als ästhetische Sozialkritik und als Zeichen der Bedrohung (1976). Mathias Prechtls Zeichenstift ist von einem malerischen, scharfkantigen, ironischen, hintersinnigen Detailrealismus (1976).
Wie tröstlich wird auch über naive Kunst und Dilettantismus geschrieben, wie wohlwollend kritisiert. Nicht als Genie, nein, als »ein Wunder« wird Véronique Filozof gefeiert. Eine »kultivierte Autodidaktin«, die um die Eigengesetzlichkeit und Eindringlichkeit ihrer bildnerischen Sprache weiß. Ihre Arbeiten setzen in Erstaunen, weil sie die Kunst, die vielgeschmähte, nach tausenderlei Experimenten, nach zahlreichen Grab- und Abgesängen wieder »mit nackten Füssen auf die Erde stellt«, so Hans-Friedrich Geist. Ihre Kunst ist auf ganz natürliche Weise »engagiert«, empfindet auch Gerda Schmidt. Weil sie zum Volke spricht, steht sie auf der Seite des Volkes, seiner Leiden, seiner Hoffnungen, seiner Glücksseligkeiten und seiner Träume. Das beweist sehr eindrucksvoll ihre große Bildfolge zur Pariser Kommune von 1871 – Die Nationalgarde geht zum Volk über (1973). Von »kunstloser Kunst« schrieb Abram B. Enns (1973). In Mode gekommen, boomt der Ausstellungsbetrieb in den 1970er-Jahren um naive Malerei, Laienmalerei, Dilettantismus.
Die Sommerausstellung der Overbeck-Gesellschaft sollte 1976 zur Augenweide für jedermann werden. Auf jeden Fall Zeuge für die leidenschaftliche Liebe zur bildnerischen Welt: Große Kunst oder bildnerisches Wohlwollen? Die feine Unterscheidung: Was ist echte, was ist unechte naive Kunst, ist Thema. Was ist überhaupt »kunstvolle Kunst« in Anbetracht der Schwemme der Laienmalerei: ein heißes Gesprächsthema. Die Frage nach der schöpferischen Frau, der Künstlerin, zieht zögerlich in den Ausstellungsbetrieb ein. Aufsehen erregt die Ausstellung Drei Frauen – Drei Generationen (1974), die Ingrid Deecke mit »bewusstem Engagement« kuratiert. Marguerite Frey-Surbek, Gudrun Piper-Mahlmann und Gabriele Grosse sind das Triofeminat. Neben diesen Überraschungsthemen läuft die arbeitsreiche, vertraute Routine. Der Slogan des vierten Pressebuches könnte lauten; »Es geht wirklich immer weiter – wenn auch im Kreise«. – Als Untermauerung dieser Aussage können folgende Entwicklungen festgehalten werden; Die menschliche Figur als ein klassischer Programmpunkt bleibt erhalten (zum Beispiel mit Edgar Augustin 1973), auch die Landschaft von real bis abstrakt. Viele Einzel-, Doppel- und Dreier-Ausstellungen lösen sich im Staffellauf ab. Das Gros der Präsentationen weiß sich getragen von einer breiten Publikumssympathie, gezeigt werden Künstler wie Willi Baumeister (1972), Horst Skodierrak, Hede Bühl (beide 1977) oder Hermann Muthesius mit Das Haus als Heimat (1978). In Lübeck geborene Künstler wie Rainer Joachims, Peter Klasen und Jakob Mattner stellen aus. Die 500. Ausstellung 1978/79 beeindruckt als »Schatzkammer« mit Kunst aus dem Besitz der Mitglieder.
Sie wartet mit Künstlern von Albert Aereboe über Peter Nagel, Pablo Picasso und Gustav Seitz bis Teruko Yokoi auf. Ein üppiger Katalog erscheint. Bevor das Pressebuch 1973-1983 endet, sendet Werner Knaupp noch »Tröstliches aus dem Krematorium« als befreiende Funktion dem Betrachter zu – dies als »bestätigter« Vollblutkünstler. Die sogenannten Jungen Wilden werden mit den wilden Dreien aus Berlin, Karl-Horst Hödicke, Bernd Koberling und Markus Lüpertz, unter die Lupe genommen, mit der Feststellung Peter Holms: »… alles halb so wild …«.
Die 1980er-Jahre
Und die restliche Zeit der 1980er-Jahre? »Die Kunst profitiert vom Wetter«, wortwörtlich und im übertragenem Sinn; mit Einzel- und Gruppenausstellungen, vermehrt Kooperationen mit anderen Institutionen, oft auch Galerien. Das Publikum wird in gelegentlichen Workshops aktiviert, geht auf Kunstreisen, bildet sich, sammelt und produziert Kunst, regionale Altmeister und Kunsterzieher / Lehrer stellen aus. Landschaften, die Natur, das Wetter, die Erde als Idee und Material gestalten den Entstehungsprozess von Kunst mit: Friedhelm Klein (1985) lässt Wind und Wetter mitgestalten. In Workshops können die Mitglieder des Vereins mitarbeiten. Erde in ihren vielschichtigen Erscheinungsformen fasziniert vor allem Rolf Iseli (1988). Von Hanna Jäger wird die Erde aus Lübeck, auch Erde aus Kreta, in die Leinwand gerieben: ein mit Bedeutung aufgeladenes aktuelles Bildthema (1984). Die Natur als Maß der Architektur zeigt sich in der von Jan Pieper konzipierten Ausstellung Ähnlichkeiten – Mimesis und Metamorphosen der Architektur anhand von erlebnisreichen, höchst ästhetischen und eleganten Modellen (1987).
Konträr wird Plastik als Kunstmaterial hinterfragt (1989): Renate Paulsen sucht und findet das vielfältige Leben zwischen den Dingen. Sich begegnen mit heißt eine Ausstellung von sechs Künstlerinnen aus Schleswig-Holstein. Sie zeigt wie sich Alltag in Kunst verwandeln kann. Dazu ein interessanter Vergleich von Jan Herchenröder: »Im Gegensatz zu dem Einzelgänger [Beuys] fanden die Frauen ohne Identitätsverlust zusammen«. Eine Einladung zum Dialog offerierte in künstlerischer Eindringlichkeit Sigrid Sigurdsson (1987).
Darüber hinaus werden »Gemalte Alpträume« (1985) sichtbar, farbige Plastik wird gegen Monotonie aktiviert (1985),’‘ ein Nachdenken über sieben Jahrzehnte im Dienste der modernen Kunst angestoßen. 1988 findet eine Ausstellung zum siebzigjährigen Bestehen statt, ein Bekenntnis zur Qualität, 1989 stellt die Overbeck-Preisträgerin Magdalena Jetelovä nicht nur im Pavillon, sondern auch in der Katharinenkirche ihre Arbeiten aus. »Kunst: Ein kleines Licht von Hoffnung«, stellt die Kritik fest. Man lehrt und lernt Worte wie Dekonstruktion und Performance werden buchstabiert und angewendet Lilli Fischer wirbelt den Staub im Pavillon auf und predigt in der Petri-Kirche von Gewürzen. Helga Moehrke drapiert dort 1988 mit Schülern des Katharineums einen »Totentanz« mit 1800 Metern schwarzer Seide. Zwischen »Zivilisationsplunder« (Abram B. Enns) und der »Poesie der Materialkunst« (Reinhard Döhl) wurden Kunstwerke, die in der Tradition von Marcel Duchamp stehen, diskutiert. Neben ihrer Malerei der Art brut irritiert Ursula Schultze-Bluhm (1987) mit ihren Pandora-Reliquienschränken aus Federn, Fell und Rasierklingen. Als Doppelbegabung fasziniert der Dichter und Maler Peter Weiss 1986 mit seinen Bildern zu
den Nordischen Filmtagen. Das fünfte Pressebuch 1984-1990 endet mit der Ausstellung der Lofotenbilder von Ernst Wilhelm Nay, zu Ehren des 100. Geburtstag von Carl Georg Heise. Ingrid Deecke verabschiedet sich mit diesen dem Expressiven verhafteten Bildern, die zwischen abstrakt und gegenständlich balancieren. Das Abstrakte ist unsere Schicksalsform, aber am Gegenständlichen haftet Erdenschwere und die Schwingen sind nicht frei.
Der Diskurs war munter in auffliegender Endlosschleife. Slogan der 1980er-Jahre: »Neues Sehen braucht die Kunst«, oder braucht das Sehen eine neue Kunst? Auffällig in jenen Zeiten war das Desinteresse an Künstlerinnen und Künstlern aus der DDR – wie im gesamten bundesdeutschen Kunstbetrieb.
Roswitha Siewert