Junge Kunst International

Eine Ausstellungsreihe in der Overbeck-Gesellschaft

Förderung junger Künstlerinnen und Künstler

Neuaufbrechenden Kunsttendenzen auf der Spur bleiben

Herausgeber: Overbeck-Gesellschaft Lübeck

Einführungstexte und künstlerische Leitung: Roswitha Siewert

Ausstellung vom 8. Mai bis 19. Juni 1994

  • Matthieu Manche – Skulpturen
  • Lisa Brice – Object Paintings
  • Ren Rong – Malerei, Scherenschnitt
  • Tobias Regensburger – Skulpturen und Objekte
  • Gary Perkins – Art Vending Machines
  • Monika Simon – Skulpturen

Junge Künstlerinnen und Künstler zu fördern hat Tradition in der Overbeck-Gesell­schaft. Die neue Ausstellungsreihe „Junge Kunst International“, 1994, die in diesem Jahr zum ersten Mal stattfindet, versucht diesen Akzent zu vertiefen und um neue Dimensionen zu erweitern. Die Tatsache der geplanten Wiederholung in jedem Jahr weist auf die notwendige Dringlichkeit, den neu aufbrechenden Kunsttendenzen auf der Spur zu bleiben.

Es geht aber auch um mehr: Diese ästhetische Landvermessung zielt über das Lokale, das Regionale und Überregionale ins Internationale. Sie zeigt die Möglichkei­ten des künstlerischen Vorgehens als individuelles Wertesystem der menschlich-allgemeinen Auseinandersetzung auf, stößt in unbekannte Länder vor, füllt Erkenntnis­lücken durch einen Einblick in die künstlerischen Aktivitäten der verschiedenen Län­der und hält den gegenwärtigen Kunstwillen als Neuland fest.

Den räumlichen Ausstellungs-Situationen sind keine Grenzen gesetzt. Die unter­schiedlichen Präsentationen der Arbeiten in den Innen- und Außenräumen der Over­beck-Gesellschaft entsprechen den vielfältigen Ausdrucksformen von Kunst.


Ausstellung vom 4. Mai bis 4. Juni 1995

  • Carsten Nicolai – Malerei
  • Peter Zimmermann – Plakatmalerei
  • Dounia Oualit – Objekte und Zeichnungen
  • Kiki Lamers – Malerei
  • Susanna Messerschmidt – Skulpturen, Photomontagen
  • Susanne Immer – Skulpturen

Die Ausstellung JUNGE KUNST INTERNATIONAL findet 1995 zum zweiten Mal statt. Wiederum sind junge Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Ländern eingeladen, um ihre Arbeiten in den Innen- und Außenräumen der Overbeck-Gesellschaft zu zeigen. PETER ZIMMERMANN signalisiert seine Sicht eines Reiseführers der Schweiz in ungewohntem Ausmaß, glänzendem Material und überraschendem Farbfluss. GARSTEN NICOLAI aus Chemnitz zeigt neue Bildfolgen. Sie sind Reisen zum Ich als „Selbstausgrabungen“ in den Farben Weiß und Gelb. DOUNIA OUALIT, in Tanger geboren, bevorzugt gegensätzliche Materialien wie Blei, Plastik, Wasser, Salz, die sich verändern, poetisch aufladen oder auch abstoßen. Ihre Zeichnungen unterstützen diese Impressionen. KIKI LAMERS aus Rotterdam trifft über ihre asketisch und realistisch gemalten Selbstbespiegelungen die aufwachende Problemwelt jun­ger Beziehungen. SUSANNA MESSERSCHMIDTs künstlerischer Weg ist über einen Aufenthalt in Simbabwe geprägt. Ihre organisch geformten und farben­frohen Hölzer, die Latexformen und Fotos erinnern daran. Zusätzlich in diesem Jahr sind zwei kreisförmige Arbeiten aus Gummi, die unterschiedlich mit PVC-Schnüren umwickelt sind, im Behnhausgarten zu sehen. Es sind Objekte von SUSANNE IMMER, Künstlerstipendiatin im Buddenbrookhaus der Hansestadt Lübeck. Auf die einzelnen Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler wird im Katalogteil differenzierter eingegangen.

Was unterscheidet nun diese Ausstellung von der vorjährigen? Diese Ausstel­lung ’95 wirkt vor allem wie eine Innovation im Elfenbeinturm der Kunst. Das Experiment tischt sich im Umfeld der vertrauten Kunstmittel auf. Auch wenn die Produkte nicht von der Situation der Person, die sie produziert, zu trennen sind, so steht nicht das Existentielle des Künstlerdaseins betont im Mittelpunkt, son­dern das Medium, das die Kunst vermittelt. Das Tafelbild, die Zeichnung, die Skulptur werden „existentiell“ auf Brauchbarkeit abgeklopft. Die traditionellen Kunstmöglichkeiten werden erweitert und inhaltlich wie formal in Grenzsituatio­nen gebracht. l.’art pour l’art geht bis an ihre eigene Grenze und kostet ihre Möglichkeiten aus. Nach all den Verwischungen, den abgewrackten Grenz­überschreitungen, findet sie in sich selbst die größte Überraschung wieder. Sie kann nicht Wissenschaft, Wirtschaft, Politik usw. eingemeinden und umgekehrt. Sie muss immer den Dialog mit sich selbst führen, um dann wieder in den Dia­log mit dem Anderen gehen zu können. Das Ausloten der eigenen Kräfte und Grenzen von Kunst ist ein Resultat dieser Ausstellung. Auch wenn die Aus­gangsmaterialien im Alltag liegen, so ist es das Ziel, im Ergebnis diese zu übermalen, umzuformen und sie in der Kunstproduktion zu überhöhen und ästheti­sche Gesetze bestätigend aufs Heute zu erneuern.

Das Internationale hat sich auf eine aktuelle Variante, auf „Polyglott“, eingepen­delt. Polyglott heißt soviel wie in vielen Kunstsprachen verständlich zu sein. Da Kunst nach Kunst ausgesucht wird, sind die Länder nicht der erste Ansatz für die Zusammenstellung dieser Ausstellung. Das Gemeinsame und Verbindliche ist auch die Kunstschiene, die durch die Räume zieht und mitreißt. So war das Bild des Reiseführers (Zimmermann) aus der Reihe „Der Große Polyglott“ ein Signal – ein Muß – für die Ausstellung. Es hing in einer Schweizer Galerie wäh­rend der Art Cologne. Es machte für die Schweiz als Reiseland Werbung und ist nun Werbeslogan für unsere Ausstellung und für die Schweiz als Kunstland. Jedoch lebt der Künstler in Köln. Eine polyglotte Kunstsituation! Die Entschei­dung fiel nicht zugunsten eines starren Konzeptes, sondern das Kunstobjekt, das überzeugende und attraktive Tafelbild hatte den Vorrang.

Es ist eine Ausstellung der Poesie der leisen Töne, die sich in der Dramatik der menschlichen Beziehungen und deren Rudimente als Figurenbild und in Objekten nicht aus dem Bild verdrängen lässt. Die Sprache der Kunst hält Distanz und Form. Sie wahrt Askese in Farben und Auswahl der Themen. Lieb­gewonnene Extras, die das Land hier, die Ausstellungssituation aus Pavillon und Behnhausgarten in der Overbeck-Gesellschaft und stattgefundene Ausstellun­gen miteinbeziehen, werden, wenn es sich ergibt, erneut aktualisiert. So ist es immer wieder die „Daphne“ von Henee Sintenis (Oualit), die mitspielt. Diesmal wird das Pferd als Kunstmetapher gleich zweimal (Lamers und Nicolai) in neuen Zusammenhängen gesehen. Das liegende Pferd von Paladino in der Kathari­nenkirche (1994) hat mit dieser Ausstellung vitale Art-Genossen. Tabuthemen im bisherigen Ausstellungsprogramm wie Pop-Art, Dada, Erotik usw. werden angefeuert (Messerschmidt, Lamers). Das zugeneigte Schöne feiert in Alltags­materialien (Immer, Oualit). Ein Kunstbegriff macht sich erneut breit, der Kunst als Speicher humaner Energien weiß.


Ausstellung vom 15. September bis 20. Oktober 1996

  • Clemente Augusto – Installation
  • Christine Clinckx – Installation
  • James Hanley – Malerei
  • Klara Klose-Lunacek – Skulpturen
  • Rosa Loy – Malerei
  • Simone Mangos – Installation, Photografie
  • Trance Femel Co – Installation
  • Katharina Wibmer – Videoinstallation

Junge Kunst International 96 ist zum dritten Mal ein Thema im jährlichen Ausstellungsablauf der Overbeck-Gesellschaft. Ein Thema, das Arbeiten von jungen Künstlerinnen und Künstlern zeigt und die Auswahl aus allen Ländern zulässt. Keine Kunstgattung steht bevorzugt da, keine erzählerische Vorgabe engt ein, Ländergrenzen verschwinden und die Spezifität des jeweiligen Landes fließt ein in den übergreifenden und verbindenden Gedanken, den Kunst für sich hat. In dieser Ausstellung vor Ort, die der jun­gen Kunst eine Chance einräumt, werden Arbeiten ausgewählt, die auf­blicken oder zweimal hinblicken lassen.

Von der europäischen Biennale für junge Künstler „germination 8″, die 1994 in Breda (Niederlande) stattfand und an der fast siebzig Künstler aus Europa teilnahmen, sind fünf Künstler erneut in der Overbeck-Gesellschaft versammelt, dies mit dort ausgesuch­ten Arbeiten und mit frischen Arbeiten: Christine Clinckx (Belgien), Klam Klose-Luriacek (Tschechien), James Hanley (Irland) und die Gruppe Trance Femel Co (Stephano Zanini + David Dronet). Damit waren die Räume des Pavillons bereits ausgebucht. Clemente Augusto aus Portugal überraschte durch Arbeiten, die sich ideal für die Aufstellung auf der Rasenfläche im Behnhausgarten eigneten. Seine Seelenkisten werden zur Fläche, zum See­lenfeld. Simone Mangos war eine Entdeckung auf einer der vielen Kunst­Messen. Das Podest kann einer Einzelarbeit einen hochtragenden Akzent im Ausstellungskonzept geben. Die frisch gekürte Video-Preisträgerin aus Marl: Katharina Wibmer erhielt für ihre ausgezeichneten und höchst aktuel­len Videos einen Platz auf dem Vertiko im Foyer. Die Bilder aus der Kind­heitserinnerung von Rosa Loy sind in nobler Reihung zu besichtigen. Noch bis zur Aufstellung der ersten Arbeit waren Möglichkeiten offen, die nur durch die räumlichen Bedingungen gestoppt werden konnten. Der prozes­suale Weg ergibt in der endgültigen Zusammenstellung das Konzept und überrascht durch seine Aktualität und Frische.

Acht Künstlerinnen und Künstler zeigen ihre Arbeiten.Bei der ersten Sich­tung der einzelnen Arbeiten ließ sich zunächst ein überlegter Tiefgang, ein waches Interesse im Umgang mit aktueller Kunst, ihrer Geschichte, ihren Medien und mit heutigen Zeitproblemen, ihren Auswirkungen feststellen. Bil­der, die unter die Haut gehen, ob die umhüllende Epidermis Risse hat oder das samtene Seelenfell Staub läßt, sie bringen den Betrachter ins Grübeln. Das Besichtigungspensum kann nicht locker, floppig mit flanierendem Blick abgehakt werden. Hier wird nachgehakt. Es geschieht auf unerbittlich ernste Weise. Die Arbeiten zwingen zur Stellungnahme. Sie stellen sich und ziehen den Besucher in ihren Bannkreis. Jede tut das mit ihren unnachahm­lichen Mitteln.

CLEMENTE AUGUSTO (Portugal) verführt mit Schmerz und Charme. Seine weißen Seelenkistchen aus purem Marmorstaub schwingen auf leich­ten Metallstäben in Reihungen über grünem Rasen. Sie bilden ein Feld, das den Besucher aufnehmen kann oder den Zaghaften außen vor lässt. Begibt er sich in das Feld hinein, fühlt er sich in einem taumelnden Labyrinth aus Ecken, Kreuzungen und Wegen. Berührt er die schwankenden Seelenkisten, dann geben sie Staub ab, lösen sich auf. Wind und Regen können diese Umwandlung noch verstärken. Übrig bleiben Metallstäbe. Es ist keine Kunst für die Ewigkeit, aber eine Kunst, die über Ewigkeit in ganz besonderer Art nachdenkt. Bewegte Land-art: sie fängt im Weiß das Sonnenlicht und ver­goldet sich, sie vergeht allmählich mit der Zeit.

Der letzte Raum im Pavillon war in der ersten Ausstellung Junge Kunst Inter­national ’94 der „Letzte Raum dieses Jahrtausends“ (Ren Rong). Die Wände des Innenraums waren rundum mit laufenden Bildreihungen geschlossen. CHRISTINE CLINCKX’s (Belgien) Arbeit „Headhunter“ (1994) dagegen lässt die Wände los. Ihre grauen aufgereihten Pflastersteine im Dreierschritt geben von der Schmalseite das Signal: minimal-art. Reduktion und Konzen­tration dem Material ergeben und der gegossenen Form gerecht. So ist der erste Eindruck: Eine unverbindliche Materialästhetik. Wagt man den Schritt in diesen Raum, dann erübrigt sich jedes kunsthistorische Wortgepränge. Headhunter-Kopfjäger: 30 Köpfe von Opfern auf Plasterstein gedruckt und der Täter mit segnender Pose im Metallbild. Folgen wir Platons Anweisung: Hör auf das Bild! Hör auf sein Schweigen! Christine Clinckx’s „Shelter hause“ (Schuppenhaus), 1996, wird, so geplant, mit Materialien aus Lübeck, sprich drei alten Türen, einer großen Zinkplatte als Dach und darauf Rasenstücke aus Lübecker Gärten, noch einmal gebaut und weiterwachsen. Da Häuser, selbst Kunsthäuser schwer zu transportieren sind, hat sich Christine Clinckx für diesen Kunstneubau im Behnhausgarten entschlossen.

JAMES HANLEY (IRLAND) bewundert Malerei von Caravaggio bis Francis Bacon, verarbeitet sie und entwickelt daraus seinen eigenen Kunststil: Eine gekonnte und glänzende Malerei in Öl. Seine Arbeiten frappieren durch einen Realismus in den Maimitteln und Sujets. Die Verbindung von surreali­stischen Tendenzen und spielerischer Ironie bringen einen erzählerischen, aber auch unheimlichen Ton hinein. Es irritieren jedoch seine Themen, wie sie ins Bild gebracht werden und den Bezug zur heutigen Wirklichkeit hal­ten. Gefahr und Angst sind sensibel und offen dargestellt. Zwischen roman­tischen Einschüben lauern existentielle Not und allgemeines Chaos. Trauma der Kindheit, Religion als Rettungsring. ,,The dead macho boys of James Hanleys“ legen Militarismus, Brutalität, Männlichkeitswahn, sportliche Über­treibung und Gewalt bloß. Opfersituationen von Mensch und Tier bleiben keine tabuisierten Zonen. „Man-made“ ist diese Welt und so malt er sie.

KLARA KLOSE-LUNACEK (Tschechien) zeigt zwei Skulpturen aus Eisen und Keramik von amputierter Schönheit und zerbrechlichem Grauen. Die unheimliche Faszination resultiert nicht nur aus den ästhetischen Elementen von Eisen und Porzellan, sie hat den Reiz auch in der Kombination von zwei im Grunde nicht verträglichen Materialien. Rostiges Eisen formt die sitzen­den Figuren. Gebrannter und bemalter Ton markiert das aufrechte Sitzen des Körpers und das angedeutete Kleidungsstück einer Schürze oder eines Tuches. Die gestelzten und gebogenen Metallteile bringen die Skulptur „right noon“ in die Nähe von Gottesanbeterinnen. Sie blickt in einen runden Metallkreis, der wie ein Heiligenschein über ihrem Schoß schwebt. Einer Corsage gleich ist der schlanke Körper modelliert, armlos nähert sich der Körper einem Kokon, wird zur schmalen Verpuppung. Der „masked man“, das männliche Pendant, trägt blaue Farben in vielen Nuancen und Ver­wischungen. Mit drei groben Schrauben sind Augen und Mund in seinem blau maskierten Gesicht markiert. Zwei amputierte Solitäre, in Schönheit erstarrt und in zerbrechlichem Outfit. Bitte nicht berühren!

ROSA LOY (Deutschland) malt kleine Erinnerungsbilder, die in ein bieder­meierliches Flächenformat die Weite psychologischer Tiefen und Träume bringt. Kindheit, Erwachsenwerden, Beziehungen, Zustände kennzeichnen sich durch Gegenstände, die in der Geschichte modisch waren, aber im Rückblick sich phantastisch verbiegen und aufblühen. Ein Formenreichtum wie der unendliche „Kampffisch“ in aufwallenden, floralen, qualligen Bewe­gungen hat dekorativen Stil der Jugend.Die Bildebenen teilen in Horizon­talen und Vertikalen, geben zerrstückelte Einsichten von Körperteilen und in Zuständen. Das Ruhen und liegen steht dem Tanzen und Drehen gegen­über. Dem Alltag wie „Morgens nur noch 5 Minuten“, wächst in diesen fünf Minuten eine paradiesische Vegetation mit gemalten Dampforgien, die nach Fruchtfleisch der Melonen schmecken. Selbst der tägliche Pfefferminz­tee aus der Kindheit träumt sich zur blühenden Pflanze aus dem Bauch­nabel wachsend.

SIMONE MANGOS (Australien) fängt die Natur ein und schafft ihr gläserne Räume. Scharfkantig und in grünen Farben stiller tiefer Wasser schimmernd erscheint die Säule aus Glas. Glas ist Eis, ist Wasser, ist dunkles Baumgrün, ist verzauberte Starre. ,,Tree“ (Baum) heißt die ausgestellte Arbeit. Sie hat auf dem Podest des Pavillons einen Blick auf den alten efeuumwachsenen Nußbaum des Gartens. Ein Cibachrome ist unter die letzte Glasplatte gelegt. Über den darauf fotografierten Baum, den Denkmälern und deren Resten auf einem Friedhof, verbindet sich die künstlerische Realität mit der natürlichen des Behnhausgartens. Aus dem lebendigen Fluss der Natur her­ausgenommen wird das farbige Foto zur Erinnerung und koppelt zurück. Aber noch mehr: auch die festen, kantigen, zum Sockel gestapelten Glas­platten übernehmen Funktionen der Erinnerung: Sie werden zum Ort eines erstarrten einst fließenden Wassers, nun voller melancholischer Poesie und Rückkopplungen. ,,Die Arbeit ist immer etwas weiter als ich“, sagt _Simone Mangos.

TRANCE FEMEL CO (Stephano Zanini + David Dronet, Frankreich). Diese Gruppe vorzustellen benötigt ein multikulturelles Festival. Begeistert von der Arbeit „Gaston“ (anywhere) 1992, die in Breda gezeigt wurde, ließ ich mich von jedem neuen Vorschlag nicht irritieren und blieb bei „Gaston“. Es ist eine Installation aus Telefonen, Lichtern, Fotos, Spiegeln und einem Soundtrack. „Gaston“ ist unterhaltend, im Spiel der Lichter, Töne und Bilder wird die Abwesenheit von Mensch melancholisch dokumentiert. Seine ein­zige Vernehmbarkeit und Darstellung wird über Apparate signalisiert. Trotz der Verlassenheit ist er überall hörbar. Zwischen Hilferuf und Infoquelle läuft der ästhetische Apparat ab. Neuerdings produziert die Gruppe in ihrer Station MIR CDs mit fraktaler Musik. „Satie.Tati.Kaki“ heißt das erste Album … „das augenscheinliche Phänomen hat den Vorteil … pour pisser dans les violons ! hiouppie ! et en avant la musique ! pouf ! pouf ! pouf ! „

KATHARINA WIBMER (Deutschland) ist Videokünstlerin. Kürzlich bekam sie den Marler Videokunstpreis für den Film „Letzte Lockerung“. Er wird neben den zwei Video-Filmen „Franzi“ und „Krampf“ in unserer Ausstellung gezeigt. Die Begründung der Jury war: In ihrem Band „Letzte Lockerung“ spielt Katharina Wibmer mit Rollen, Konditionen und Konditionierungen. Unterschiedliche Formen der individuellen Selbst-Suche und Vergewisse­rung setzt sie – mit ständigen ironischen Brechungen – in skurrile Beziehungen, kollektive Normen und Erwartungen um. Die daraus entste­henden Spannungen steigert sie durch eigenes körperliches Spiel und durch Verformungen und Abweichungen – zu grotesk variierten Formpro­zessen, denen witzige Intermezzi aus lebendigen Körpermustern zwischengeschaltet werden. Dabei hält sie eine genau kalkulierte Balance zwischen Raffinesse und Naivität … nutzt Katharina Wibmer die Möglich­keit der Videotechnik unangestrengt … In ihrer Beschreibung fragt sie: .Können Sie intellektuellen Gesprächen nicht mehr folgen? Wird der Bauch­nabel das neue Symbol der deutschen Nationalflagge? Spüren Sie den Unterschied bei volkstümlichen Veranstaltungen? … ,Die letzte Lockerung‘ zeigt Stellungen und hilft, Ihre Fragen zu überwinden.“

Ich nehm sie beim Wort! – Mir bleibt es noch, den Besuchern viele spannende Anregungen und Gedanken zu wünschen. Allen, die geholfen haben, daß die Ausstellung so geworden ist, wie sie jetzt ist, sei gedankt. Den Künstlerinnen und Künstlern aus nah und fern einen herzlichen Dank und Erfolg auf allen weiteren künstlerischen Wegen.


Ausstellung vom 13. Juli bis 17. August 1997

  • Reto Boller – Malerei
  • Mirta Domacinovic – Objekte, Performance
  • Ippazio Fracasso – Skulpturen, Malerei
  • Inge Gutbrod – Skulpturen
  • Jens Haaning – Installation
  • Clay Ketter – Installation, Malerei
  • Tony Oursler – Installation
  • Miron Schmückle – Photografien
  • Stig Sjölund – Installationen
  • Per Traasdahl – Malerei

Junge Kunst International 97 ist zum vierten Mal ein Thema im jährlichen Aus­stellungsablauf der Overbeck-Gesellschaft. Ein Thema, das Arbeiten von jun­gen Künstlerinnen und Künstlern zeigt und die Auswahl aus allen Ländern zulässt. Keine Kunstgattung steht bevorzugt da, keine erzählerische Vorgabe engt ein, Ländergrenzen verschwinden und die Spezifität des jeweiligen Lan­des fließt ein in den übergreifenden und verbindenden Gedanken, den Kunst für sich hat. Zehn Künstlerinnen und Künstler werden ihre Arbeiten zeigen. Diesmal kom­men sie aus den USA, der Schweiz, Schweden, Rumänien, Kroatien, Italien, Dänemark und Deutschland.

  • RETO BOLLER aus der Schweiz war 1946 ein Preisträger für Malerei im Eid­genössischen Wettbewerb für freie Kunst in Basel. Der strahlende Glanz seiner, oft in nur einer Farbe gemalten Bilder, die körperhafte Auftragung des Farbmaterials und das Tanzen der Formelemente, auch aus der Reihe, machen den Reiz seiner Malerei aus.
  • MIRTA DOMACINOVIC aus Kroatien wird zur Eröffnung eine Performance in „Kleidungsobjekten“ aufführen. Es sind absurde Kleidungsstücke, die ent­weder von zwei Menschen gleichzeitig zu tragen sind oder für keinen prakti­schen Gebrauch tauglich scheinen. Während der Ausstellungsphase wird ein Videofilm die Eröffnungs-Performance dokumentieren.
  • IPPAZIO FRACASSO aus Italien nimmt Highlights aus klassischer Literatur und Kunst zum Anlaß, um sie in seine eigenwillig-farbstarke und poppig-auf­gerasterte Malweise umzusetzen. Das Epochebild „ltalia und Germania“ nach J. F. Overbeck wird als Malerei im Innenraum und mit einer nach außen proji­zierten Skulptur, mit Ton und Licht, dabei sein. (Die Königs-Passage zeigt Arbeiten von ihm [vom 7.-22. Juli]).
  • INGE GUTBROD aus Deutschland legt Wege aus Wachsplatten zur Daphne-Plastik von Henee Sintenis im Behnhausgarten aus. Es sind Wege zum Begehen, zum Umgehen, zum Vermeiden, zum Steckenbleiben: Optische Eiszeit und mögliches Auftauen zur Sommerzeit.
  • JENS HAANING aus Dänemark liefert zur Ausstellung eine Arbeit, die eine Überraschung für sich sein wird. Der Weltmarkt, die Werbung und das weit­aus Andere werden für ihn zum Ready-made seiner Installation. Auch seine Bildboard-Projekte bleiben dem Alltäglichen verpflichtet.
  • CLAY KETTER aus den USA ist dem Faszinosum von Küchen-Resopal erlegen. Schrank-Installationen, Relief-Objekte und Malerei verfolgen die ver­trauten Muster, entheben sie dem Küchenalltag und bringen den Betrachter ins optische Jonglieren.
  • TONY OURSLER aus den USA, wird mit einer Arbeit vertreten sein. ,,Kiss/Cough“ von 1994 zeigt eine Figur aus Video-Kopfvorlage, Puppenkör­per und Apparat. Zwischen kindlichem Horror und höchster Animation von Leben muß sich der erschreckte Besucher einpendeln.
  • MIRON SCHMÜCKLE aus Rumänien: Es werden Fotografien aus seiner Arbeit „Ophelia“ ausgestellt. Die lebendige Haut des Körpers, das Welken der weißen Rosenblüten, dazu die Kunsträume aus Leinen, all das spielt in lyrischen Konstellationen mit Leben und Tod. (Die „Kunststation Bahnhof“ zeigt Arbeiten von ihm.)
  • STIG SJÖLUND aus Schweden arbeitet mit überraschend unkonventionellen, spielerischen Elementen. Mobiles als bewegliche Sternenhimmel, dazu Windmaschinen und Glockenspiel selbst Tarotkarten, scheinen aus der Erfah­rungswelt kinetischer Objekte zu stammen. Das Märchenhafte erscheint harmlos und lässt nebenbei Gefahr ahnen.
  • PER TRAASDAHL aus Dänemark bringt seine gemalten Porträts, seine „mis­sing victims“, in die Kunstdebatte. Es sind Vorlagen aus der Fiktion. Die sche­menhafte Malweise, die verfließende Auflösung der Farben ergeben den Ein­druck von Video- und Fernsehbildern. Such- bzw. Vermisstenanzeigen, wie Grüße aus einer anderen Welt, sehen uns an.

Dem Ausstellungsbesucher der JKI ’97 wird Stoff zum Träumen bis zum Alp­traum geboten: Er kann auf paradiesischen Pfaden wandeln, an den Kanten mit Schrecken notlanden, dem Alltag Glanzlichter aufsetzen, Beziehungsland­schaften durchspielen oder einfach nur „Junge Kunst von heute“ ansehen. Was zeichnet diese erneute und aktualisierte Ausstellung von 1997 aus? Was unterscheidet sie von den bisherigen Unternehmungen? Es ist die Farbe Weiß, die in einer glänzenden Dominanz erscheint, voller Poesie, voller Unschuld, aber auch voller Kälte und Härte. Zwischen allgemein-klassischer Distanz und Offenheit und subjektiv-ironischer Gebrochenheit des Romanti­schen sind die Kunstwerke mit Gefühl und auf Intellekt eingespielt. Die Orien­tierungskrise, der Kunstkollaps, findet nicht statt. Das System dieser jungen Kunst-Avantgarde scheint im romantischen Rückbezug beheimatet zu sein. Etwas Verlorenes zu suchen, ist allen eigen. Sich verabschieden und sich neu melden. Die Berührung suchen, andeuten, wollen. Sehnsucht über Kunst darstellen, ohne sie zu verraten, bloßzustellen, im peinlichen Gerührtsein zu ersticken oder welken zu lassen. Weiß neutralisiert, gibt Haltung. Keine Insze­nierung der eigenen Gerührtheit findet statt. Keine rosa Soße der Sehnsucht läuft aus. Weiß leuchtet geheimnisvoll aus sich selbst heraus. Gehen wir in weiser Weißheit durch die Arbeiten der Künstler:

Reto Boilers Arbeit „verschiedene Materialien“, aus Baumwolle und weißem Acrylmedium, lässt im Naturton dem Material Baumwolle die Sanftheit. Ein aus­fließendes pulsierendes Weiß in schwingenden Umrisslinien feiert ein insuläres, aber kein singuläres Ereignis auf der von Farbe fast unberührten Fläche. ,,Nicht berühren!“, weist auch auf unangenehme Hautauswüchse, -verflech­tungen oder -erkrankungen. Die Weichheit, die Sanftheit dient als äußerer Schutz.
Die Objekte von Mirta Domavcinovic sind aus naturbelassenem Nessel. Sie spricht von einer Zu-Zweit-Kooperation. Sie sind „extreme Beziehungspunkte, die bei zwischenmenschlichen Kontakten entstehen“. Und sie fragt sich: ,,Wie sind die Verhältnisse wirklich?“ Sie spricht auch vom bekannten Bild des Top­fes, der seinen Deckel sucht, dies als aktiver und passiver Prozess zugleich. In der Performance geht sie von einer archetypischen Situation aus. Die weißen Objekte unterstützen den Eindruck des unbewußten Vorganges, alles ist auch austauschbar, beliebig und offen. Aber die Bewegung zueinander findet unaufhaltsam statt. Die Beziehungsmieder halten und bewahren die Form.
In lppazio Fracassos ausgestelltem Bild geben weiße Umrisslinie zeichnerisch die Körpergrenzen an. Schwert und Stern glänzen in der Mitte metallisch in Gold und Silber. In der Skulptur glänzt und schimmert das Metall bis zur gleißenden Auflösung im Sonnenlicht. Die rhombischen Leerräume sind Rea­lität von Luft und Nichts. Die Bearbeitungen des Metalls gehen in irisierende Auflösung über: Weißes Licht produziert die Abendsonne auf der Oberfläche, wenn sie direkt oder durch die Nussbaumblätter ihre Wege auf der Skulptur zeichnet.
Finlays „Pastorales“ ( 1991) im Behnhausgarten lässt auf rundem Metall die Worte von Saint-Just lesen: ,,Let us invite Natur and all The Virtues to our Festival“. lnge Gutbrods Arbeit klingt mit ein. Die Pfade aus Paraffinplatten gelegt, die die Wege zur „Daphne“ vor dem Pavillon der Overbeck-Gesellschaft im Behn­hausgarten nachvollziehen, machen direkt Zwischenstation bei diesen Wor­ten. Heute hat die Natur die Kunst eingeladen. Sie läßt sich von den Kultur­pfaden der Gartenanlage leiten und gibt doch über das Material Wachs, der Kunst einen Sonderbonus. Die Idee, in ihrer schönsten Interpretation des Idealismus, scheint aufzuleuchten, eisig bis sonnig. Keine Kunst für die Ewig­keit: sie kann vergehen, ertragen, auch tragen, in sich aufnehmen und auch glaskar abstrahlen. Die Klassizität paart sich mit der Romantik. Alles erscheint so harmonisch, nur der Weg geht nicht auf das Daphne-Denkmal zu, son­dern daran vorbei. Ovids Metamorphose der Berührungsangst und Umwand­lung in Natur hat eine neue künstlerische Ausdeutung. Ein Marmorweg wäre für die Ewigkeit, ein Wachsweg ist ephe­mer. Nicht umsonst heißt die Arbeit: ,,Go to pot“ in all der weißen Unschuld.
Jens Haaning führt das weiße Blatt der Überraschung an. Nach der Eröffnung werden wir wissen, welche Farbe aus Weiß kommen kann. Clay Ketter liefert sogar ein Bild das White-Weiß betitelt ist.
Tony Ourslers Puppen oder Gesichter sind zunächst weißer Stoff, darauf wird das Video-Gesicht eines Kindes mit seinem Lachen, Husten, Schreien proji­ziert. Blanker Horror, tiefes Mitleid und plötzliches Erschrecken über diese kindlichen Mitteilungen halten den Besucher gefesselt. Wird der Video-Appa­rat abgeschaltet, waltet die Ruhe, die Unschuld, das runde Stoffweiß …
Genug Argumente für Weiß als ein verbindendes Element innerhalb dieser Austeilung? – Nein, auch Miron Schmückle arbeitet mit weißen Kunsträumen, Kunstkisten, Kunstbahren, die sich aus Leinen bilden. Totentücher für Ophe­lia? Weiße Rosen, die verwelken. Die lebendig wirkende Haut eines jugend­lichen Körpers ruht, versucht sich zu berühren, die Leinwand, den Schatten. Der eigene Körper als Fremdes, als zu eroberndes Territorium. Eine Seelenkunst, die die Haut als Oberfläche einsetzt und vorsichtig tastend Tiefenwirkungen erreicht.
Stig Sjölund wird offen seine Kunstsache vorstellen und Himmel und Tarot in Gang setzen.
Per Traasdahl setzt die weiße Farbe wie Leuchtsignale auf, vor allen, wenn es gilt den Augen, Strahlkraft zu geben. Die Hintergründe sind weiß wie eine Ausstellungswand in seinen Bildern gemalt. Damit verschiebt sich für Traas­dahl „jeglicher Kontext bezüglich der figurativen Situation ins Innere der Figuren. Dort bricht bei der Gegenwart verschiedener Maimodi die Erwartung eines figurativen Aufbaus zusammen, und man weiß nicht mehr, ob hier etwas Totes (eine Puppe, eine Maske, die Leinwand selbst) lebendig gemacht wird oder etwas Lebendiges stilisiert und dabei bemächtigt und unter Kontrolle gebracht worden ist. Es wird nicht klar, ob die dargestellten Figuren selbst Opfer oder Täter oder weder noch sind.“

Kunst hat soviel für sich, nicht nur die Farbe Weiß. Diese Farbe erscheint als eine Möglichkeit einer willkommenen und augenscheinlichen In-Besitznahme dieser Austeilung. Bilder, Objekte, Installationen dieser Ausstellung weisen auch auf andere Farben und Gedanken. Deshalb, wie angekündigt: bei aller und noch so großer Ausstellungsmüdigkeit, – trotz der großen Kunst-Darbie­tungen in diesem Jahr wie Dokumenta, Biennale usw. – treffen wir uns auf der „JKI ’97“!


Ausstellung vom 19. Juli bis 30. August 1998

  • Yael Davids – Performance
  • Pal Szacsvai – Installationen
  • Koji Tanada – Skulpturen
  • Thorvaldur Thorsteinsson – Installationen
  • Mare Tralla – Installationen
  • Christine Krämer – Malerei

Sechs Künstlerinnen und Künstler werden in diesem Sommer 98 ihre Arbeiten zeigen. Ort der Ausstellung ist vor allem der Pavillon. Bäume im Behn­hausgarten und bevorzugt die wenigen Bäume im Stadtbild sind auf stille Weise ins Ausstellungskonzept miteinbezogen. Die Künstlerinnen und Künst­ler aus den Ländern, die bisher noch nicht in der JUNGEN KUNST INTER­NATIONAL vertreten waren, sind: aus Israel Yael Davids, aus Ungarn Pal Szacsvai, aus Japan Koji Tanada, aus Island Thorvaldur Thorsteinsson, aus Estland Mare Tralla und in künstlerischer Gastgebergeste Christine Krämer aus Deutschland, geboren in Kopenhagen. Die stetige Frage zu jeder der fünf Ausstellungen ist: Was unterscheidet die ’98 von den vorhergehenden, worin zieht sie gleich?

Die Ausstellung und auch der Katalog sind in enger Zusammenarbeit mit den Künstlern entstanden. Das bisher vertraute und immer wieder abgebildete Ambiente der Räume, Wände und Ausstellungssituationen im Katalog ist zugunsten der Kunstwerke und Stellungnahmen der Künstler oder der den Künstlern genehmen Kommentare umgepolt. Dem Internationalen entgegen­kommend sind diese schriftlichen Zeugnisse in englischer Sprache. Um so wichtiger ist diese einführende Zusammenstellung in unserer Sprache, weil sie die künstlerischen Ansätze vorstellt und das Konzept für alle Besucher trans­parent hält. Alle sechs Künstlerinnen und Künstler werden zur Eröffnung in Lübeck sein, wir werden wieder ein Interview in verständlich globaler Euro­sprache aufnehmen und interessierten Besuchern anbieten.

Die diesjährige Variation hat mehrere Gründe:

  1. Die Ausstellung JKI ’98 will dem Innovativen auch in der Serie oder Rei­hung treu bleiben.
  2. Der Zeitraum war zu kurz, um die frisch aufgebauten Arbeiten in unseren Räumen zu fotografieren und den Katalog zur Eröffnung bereit zu haben.
  3. Einige Künstler reisen erst zur Eröffnung an und bringen ihre Arbeit mit.
  4. Der Katalog ist, wie er jetzt vorliegt, in Absprachen mit den Künstlerinnen und Künstlern erarbeitet und ist eine Anleitung zum Verständnis und eine Einführung in die speziellen Kunstsichten dieser Ausstellung ’98.

Extrempositionen der heutigen Kunstbefragung werden in Beziehung gesetzt und balancieren sich in den Arbeiten kontrastreich zu individuellen Antworten aus:

  • YAEL DAVIDS‘ Thema ist der Zwiespalt zwischen dem öffentlichen und priva­ten Aspekt des Körpers. Auf den ersten Blick bricht sie scheinbar Tabus. Aber ihre Horrorsymbiosen aus Alltagsgegenstand und menschlichem Körper versuchen, ohne Tricks und Lügen, der Wahrheit von sachlichem Ding und menschlichem Körper in den Vernetzungen und Gleichsetzungen nahezu­kommen. Zur Eröffnung wird sie ihre Performance „Aquarium“ zeigen. Unter­wassersein und Atmenkönnen gehen an die Grenzen menschlichen Über­lebenstrainings.
  • PAL SZACSVAls Arbeiten sind der künstlerischen Kombination mehrerer Systeme verbunden. Es geht darum, das Verständnis für gesellschaftliche Wirklichkeiten mit Hilfe visueller Künste zu erarbeiten. Bekannte repräsen­tative Systeme werden mit Kunstaktivitäten verbunden, die sich dann in ihrer Rolle entblößen oder auch die Gepflogenheiten von Kunst hinterfragen. Seine Geld-Mal-Arbeit ist ein Beispiel dafür. Für Lübeck hat er diese Arbeit aktuali­siert: statt der ungarischen Münze „Forint“ wird die Deutsche Mark Grundlage seiner Kunstinszenierung und damit zum zeichenhaften Abgesang in der Mor­genröte des Euro. Ein „Foucaultsches Pendel“, eine weitere Arbeit, schwankt zwischen dem Absoluten und Relativen.
  • Für KOJI TANADA aus Japan bleibt die menschliche Figur Ausgangspunkt seiner Skulpturen. Fliegende, Stehende oder Rollende, als Fisch, Blume oder Kind bezeichnet, vermitteln Bewegung trotz Ketten und Prothesen. Körper­liche Behinderungen, durch Krankheit oder Unfall bedingt, können durch künstliche Teile oder durch bewusstes Training zum „idealen Körper“ transfor­mieren, der einer archaischen Skulptur ähnelt. Medizinische Aspekte integriert, individuelle Erlebnisse verarbeitet, bilden die Knstwerke ein Bezie­hungsgeflecht zu einer theaterhaften Inszenierung mit Skulpturen.
  • THORVALDUR THORSTEINSSONs Arbeitsbereich ist auch die schillernde Zwischenzone aus künstlerischer Sprache und Alltagsjargon. Jetzt steht es fest: eine neue, leise Arbeit installiert er in Lübeck. Er wird sich markante oder „nebenbei“ Bäume im Behnhausgarten und in der Innenstadt aussuchen. In den Boden werden kleine Schilder gesteckt, wie sie aus den botanischen Gärten bekannt sind, aber sie werden nicht über die Baumart usw. informieren, sondern über das Wort „Landminen“, das zu lesen ist, geht es in die Gedankenarbeit über Kunst und Öffentlichkeit, über Krieg und Frieden. Bäume als natürlich wachsende Explosionen der Erde, oder sind da tatsäch­lich Landminen versteckt?
  • MARE TRALLA aus Estland hat für einen Raum des Ausstellungspavillons ihre Arbeit „Second-hand Love Stories“ ausgewählt. Die Liebe als elementa­res Erlebnisfeld für jedermann wird in Fragmenten, vorwiegend in Form von Nachthemden und Unterwäsche, mit den dazugehörigen Geschichten und Fotoköpfen zu einer Installation aus verschiedenen Individuen inszeniert. Das Anzügliche geht in den dokumentarischen Rahmen, die aufgeschriebenen Kurzfassungen lassen Alltagspoesie zu. Die sonst verschlossenen Türen öff­nen sich zu einer Bestandsaufnahme karger Nüchternheit.
  • HELENA HIETANEN aus Finnland musste ihre Teilnahme leider für dieses Jahr absagen. Sie wird im nächsten Jahr dabei sein.
  • Aus dem Gastgeberland ist CHRISTINE KRÄMER dabei. Sie vertritt die Kunstsparte Malerei. Gleichgroße Bilder sind mit einer ornamentalen Maistruk­tur in immer neuen Fassungen versehen. Wie Ausschnitte aus unendlichen Bildern bieten die Arbeiten eine Vernetzung unterschiedlicher Systeme. Sie erinnern an medienorientierte, fraktale Bildereignisse. Sie stehen in der Geschichte und Kunstgeschichte des Ornaments. Sie haben eine orientali­sche Farbpracht, Exotik und Exklusivität. Sie sind dem Abstrakten verpflichtet. Die Formengewebe assoziieren das Organische und geben Raum für Stoff­liches und Figürliches in raffinierten Kontrasten: ein innovatives Futter für die Augen.

Ähnlich der JKI ’97 hat auch diesmal der Ausstellungsbesucher Stoff zum Träumen bis hin zum Alptraum: er kann auf paradiesischen Pfaden wandeln, an den Kanten mit Schrecken notlanden, dem Alltag Glanzlichter aufsetzen, Beziehungslandschaften durchforsten oder einfach nur „Junge Kunst von heute“ ansehen. Was die Ausstellung JKI ’98 auszeichnet, ist ihre dialektische Konsequenz, ihr stringentes, ambivalentes Spiel der Extrempositionen. Ein­gebunden ins Werk ist der Betrachter, der im Auskosten der bis zum Aus­schlag ausgependelten Arbeiten angeregte Beschäftigung findet. In Kommu­nikation zwischen Werk und ihm passiert die Kunst.


Ausstellung vom 1. August bis 12. September 1999

  • Jan Apitz – Installationen
  • Alex Finlay und Zoe Irvine – Photografien, Installation
  • Gisoo Kim – Objekte
  • Anna-Lea Kopperi – Malerei, Installationen
  • Margarethe Makovec und Anton Lederer – Installationen
  • Tassos Triantafillou – Objekte

Kunst von heute hat einen lang zurückliegenden Ursprung und doch passiert sie heute, prägt das Heute und ist Teil von uns. Ob wir sie mögen oder nicht, ob sie unserem Geschmack entspricht oder nicht. Sie hat ihre eigen­gesetzlichen Entwicklungen. Darf nicht in wiederholender Routine erstarren, sollte den überraschenden Kick des Augenblicks vermitteln und mit dem neuen Ungewöhnlichen, das sie darstellt, Vertrauen erwecken und überzeugen. Das ist eine nicht ganz einfache Ausgangsposition.

Die Ausstellung Junge Kunst international ’99 findet zum sechsten Mal statt. Acht Künstlerinnen und Künstler sind dabei. Sie vertreten mit ihrer jungen Kunst Länder, von denen bisher noch keine Arbeiten gezeigt wurden. Eine Generation stellt sich vor, die ihren Weg in der gegenwärtigen Kunst gefunden hat. Man arbeitet in Gruppen, Kollaboration, mit begleitenden Assistenten, aber auch noch als Individualkünstler. Der unternehmerische Geist hat Platz mit dieser Ausstellungsreihe genommen. Spannend und unkonventionell waren die Vorbereitungen, die fertige Ausstellung erschreckt in ihrer öffnenden, heiteren neuen Sicht auf Kunst von heute. Wie jede Ausstellung in dieser Reihe trifft sie einen Punkt aktueller Kunst: Der Künstler als Gärtner in vor- und fürsorgenden Aktivitäten, der Künstler als unverbesserlicher Optimist mit allen ironischen Brechungen, der Künstler in künstlerischer Tradition, die Innovation als individuelle Umsetzung praktizierend, der Künstler im positiven Kontrast zum gefeierten Übervater, der Künstler im Freischwimmen vor mitprägenden Leuchttürmen des Kunstlebens. Das sind Situationen, die die beteiligten Künstlerinnen und Künstler in dieser Ausstellung umsetzen. Dabei sind Alec Finlay und Zoe Irvine aus Schottland, Gisoo Kim aus Südkorea, Anna-Lea Kopperi aus Finnland, Margarethe Makovec und Anton Lederer aus Osterreich, Tassos Triantafillou aus Griechenland und aus Deutschland Jan Apitz. Die Zusammenstellung dieser Kunstgruppe ’99 ergab sich zufällig und geplant. Im letzten Jahr sollte Finnland durch Helena Hietanen vertreten werden. Sie erkrankte und musste auch für dieses Jahr ihre Teilnahme absagen.

Finnlands Beitrag sind die Arbeiten von Anna-Lea Kopperi. Sie hat von 1990 bis 1996 an der Düsseldorfer Kunstakademie bei den Professoren Günther Uecker, Jannis Kounellis und David Rabinowitch studiert. Prägende Künstler unseres Jahrhunderts als Vor- und Ausbilder geben den Weg vor. Welche künstlerischen Mittel wählt eine Künstlerin mit dieser Vorgabe, wie setzt sie sie ein? Der letzte Raum im Pavillon wird mit Spiegeln und weißen Bändern schon jetzt in eine neue Raum- und Zeitdimension versetzt. Jannis Kounellis, der Grieche, der in Rom lebt, ist auch der Lehrer von Tassos Triantafillou. Bei meinem Besuch der Ate­liers im Edinburgher College of Art an der Heriot-Watt Universität war er am arbeiten. Einen Griechen in Edinburgh, dem Athen des Nordens, anzutreffen, der sich mit den künstlerischen Fragen seines berühmten Landsmannes auseinandersetzt, war ein glücklicher Zufall. Tassos Triantatillou fliegt zur Ausstellung aus Athen nach Lübeck ein. Die Zweige zu seiner Installation warten in Lübecker Wäldern auf ihn.

Alec Finlay ist ein Sohn von lan Hamilton Finlay, dem weltberühmten Künstler aus Schottland. Während meines Aufenthaltes in der Fruitmarket Gallery in Edinburgh half er mir, interessante Ateliers zu besuchen, um einen jungen schottischen Künstler für die Ausstellung Junge Kunst international ’99 zu fin­den. Bis wir auf die Idee kamen, warum sollte er nicht in Lübeck ausstellen? Er ist auch Künstler, nicht nur Sohn. Mit Zoe lrvine wird er gemeinsam sein Projekt Windrose zeigen.

Margarethe Makovec und Anton Lederer haben eine der letzten Ausstellungen „Junge Kunst international“ besucht, waren begeistert und haben sich einfach beworben. Ihre Gartenprojekte und Arbeiten mit Pflanzen waren neu und überzeugend. Österreich war bisher nicht dabei, also sind sie es „heuer“.

Der internationale Aspekt fehlt noch. Ein begeisterter Hinweis auf die Arbeiten der Südkoreanerin Gisoo Kim, die in Flensburg ausgestellt hatte, rundete das Konzept ab. Es ist eine Freude, wie sie mit ihren heiteren Arbeiten die Bel etage des Pavillons füllt. Die Gastgebergeste hat Jan Apitz aus Leipzig zu erfüllen. Im Foyer, an der Bushaltestelle Koberg und in der Bahnhofsvitrine werden seine Vogelblenden aus fliegenden Papiermenschen begrüßen.

Wie stets: Dank allen, die geholfen haben, dass diese Ausstellung stattfinden kann und der Wunsch, dass sie wieder stattfinden wird.