Lettland ist das mittlere der drei baltischen Länder.
Ohne intellektuellen Ballast vertreten sie eine kosmopolitische Haltung in der Kunst, die das Interesse am Heimischen nicht ausschließt.
Abb. Famous Five (Ieva Rubeze, Martins Ratniks, Liga Macinkevica) Time will show. Video Installation, 2003/2004
Vortrag von Roswitha Siewert am 12. April 2005 in der Volkshochschule Lübeck und in der Herder-Gesellschaft in Rostock am 1. Dezember 2005
Willkommen in Lettland!
Wahlkampf links mit europäischen Symbolen. Der Wahlspruch, der über europäischer und lettischer Fahne zu lesen ist, war: „Vertraue auf deine Arbeit“(Tici savan darban). Die Ampel ist abwartend auf gelb-orange. „Time will show“, die Zeit wird es zeigen, ob sich die Fahne Lettland mit ihren weißen und dunkelroten Streifen von der Europäischen Winddynamik an den Rand drängen lässt, oder ihre eigene Entfaltung, im Vertrauen auf Arbeit, zu einem gleichberechtigten bzw. gleichwertigen Teil Europas wird. In diesem Vortrag geht es um Farben, Formen, Signale, die auf Kunst weisen oder es auch sind.
Herder wusste über eine menschliche Philosophie zu schreiben: „sich von den Sternen zu den Menschen herablassen.“ Links die lettische Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga im Kreuzfeuer der Presse nach der Stimmabgabe zum EU-Referendum. Rechts der Abend davor auf dem Domplatz von Riga. „Wir singen eher gern ein Lied zusammen als großen Reden zuzuhören“, sagen die Letten. Warum gerade dieses Foto? In den Roten Farben, in den Nuancen von Rot sind nicht nur die Farben der lettischen Fahne, nimmt man den weißen Pulloverarm der jungen Reporterin hinzu, sondern auch die Farbtöne, die den Reiz lettischer Malerei attraktiv machen und Symbolkraft mit Lebensenergien füllen.
Das ist kein Porträt der Staatspräsidentin. Es ist die Sängerin Sonora Vaice, die hier Modell in einem Gemälde von Romans Suta zusammen mit Raimonds Martinovs steht, rechts daneben das Originalbild von Sutas 1919 gemalt. Fast könnte man die folgenden Wort von Romans Sutas aktuell der Staatspräsidentin zumuten.
1923, also vor über 80 Jahren; schreibt Romans Suta in seiner Einleitung zu: 60 Jahre lettische Kunst: “ Die großen und staatlich wohlorganisierten Kulturvölker haben dem kaum zwei Millionen zählenden lettischen Volk, welches sich erst unlängst zur Selbstbestimmung durchgerungen, vollgültige und rechtliche Anerkennung zuteil werden lassen und den lettländischen Staat als gleichberechtigtes Mitglied in ihrer Gemeinschaft aufgenommen. Sie mögen nun billigerweise die Frage stellen, wie weit das lettische Volk es verdient, nicht nur als gleichberechtigtes, sondern auch als gleichwertiges Mitglied der großen Kulturgemeinschaft betrachtet zu werden. Entspricht der politischen Selbstständigkeit auch ein kulturelles Eigenleben, das allein die sicherste Bürgschaft der politischen Errungenschaften ist und ihnen innerste Berechtigung zu verleihen vermag? Ist das in die freie Völkergemeinschaft aufgenommene lettische Volk nur ein passiv-empfangendes oder auch ein Kultur schaffendes Volk, berufen, an den Fragen, soweit sie sich auf ein begrenztes Gebiet des geistigen Schaffens, das der bildenden Kunst, beziehen, eine Antwort suchen zu helfen? . . .“. Suta will (damals 1923 in einer Aufblühphase Lettlands, nach dem ersten Weltkrieg) nicht nur die Kunst seines Landes propagieren und eine Reihe von lettischen Künstlern in Westeuropa bekannt machen, sondern auch das lettische Kunst als eine eigene, ernstzunehmende Art im Bewusstsein der europäischen Kunstgeschichte verankert ist. Dieser Ansatz konnte nicht erweitert werden, da durch den Hitler Stalin Pakt 1939 jede politische und kulturelle Selbstständigkeit abgebrochen wurde. Der eiserne Vorhang zog auf . . ..
Heute ist die Fragestellung – wie sie Suta formulierte ähnlich. Nur . . . die heutige Kunst und ihre Vermittlung ist eine andere geworden. 2004/2005 variieren und aktualisieren sich die Wünsche, die erreicht werden könnten über Begriffe des net-working, von Vernetzungsstrukturen, neue Bilder und Kontakte, die sich im Augenblick schnell nicht nur über Europa, sondern weltweit, verbreiten und herstellen. Was eine Entprovinzialisierung im eigenen Land bedeutet und Europa Vorschub gibt. Europa als neue Grenze nach außen, als Abschottung . . . auch.
Die Besinnung auf den eigenen Weg, kann neue Rollen in einem neuen Stück schreiben. Es gibt eine neues Stück: die EU Erweiterung von 2004. Es gibt ein erweitertes Bild, das mit Menschen von heute nachgestellt ist, aktualisiert ist , aber doch ganz auf und aus Tradition beharrt.
Nun wortwörtlich: Diese Tradition lettischer Moderne sehen wir uns intensiver an: Rechts Roman Sutas Bild „Zwei Figuren „von 1919 (75,5 x 61). Links das Titelfoto zur lettischen Kunstzeitschrift „maksla“ 2004. Frage nach der Vergleichbarkeit der Bilder: Ein zeitgenössischer Blick auf die künstlerische Vergangenheit. Ein mit lebenden Menschen nachgestelltes Kostümbild. Hier nun Aktualisierung durch Umsetzung in ein relativ modernes Medium: des inszenierten Fotos. Sutas Arbeit ist Beispiel für die damalige Formkonzeption eines auflebenden lettischen Expressionismus und Kubismus. Keine Perspektive der optischen Täuschungen, sondern die Unveränderlichkeit der objektiven Welt, der Gegenstände und die ewig aufregende Beziehung des Menschen, zwischen Mann und Frau. Frage und Antwort ist das Thema, der bohrend fixierte Blick des jungen Mannes im scharfen Profil, Frisur, Bartkoteletten und Augenakzentuierung unterstützen den klar geschnittenen Eindruck. Der Hut sitzt auf. Der schwarze Handschuh liegt überredend und festhaltend auf der linken Schulter. Nicht die Schulter herunterdrückend , sondern sanft fordernd. Sie madonnengleich mit modisch kokettem Hütchen und rosa flash auf den Wangen, die modische Tasche unbehandschuht, aber mit Pulswärmer vor sich – als Schutzschild haltend. Sie blickt aus dem Bild in ein traurig machendes Nichts. Aber vor einem Grünen Quadrat mit hellgrüner Oberumrahmung, wo ars = Kunst zu lesen steht, in Verbindung mit dem Hellblau kommt die Assoziation an Landschaftliches auf. Nur der blaue Himmel ist unten. Die Welt steht auf dem Kopf. Künstlich wie das aufgelegte Rouge wird in den vertikalen Hintergrundflächen der männlichen Figur ein Rosa lichtvoll in die Höhe gezogen Nr. 5 steht darauf. Für manche zieht der Duft von Chanel ein. Wohl eher die Famous five, eine lettische Künstlergruppe, die uns noch beschäftigen wird. Die Kleidung der beiden ist nuancenreich in braun-weinrot, rost, in sehr beruhigenden Farben gemalt.
„Erste Röte glänzt auf den Wangen, und die Lippen lächeln, kaum vertrauend . . .“ Janis Rainis. Die Formensprachen ist dem Konstruktiven verpflichtet. Weich, samtstofflich, die Blicke zum Hinschmelzen im Foto: die Figuren werden im Grunde vor dem abstrakten Bild ausgetauscht. Ein Foto von Heute. Der alte Mythos Zeus und Europa auf lettische Art.
Die rotbraune Farbe mit allen politisch-kriegerischen und auch erdig-landschaftlichen Assoziationen geht wie ein wiedererkennbares Signal durch die Malerei. Sehen wir uns ein paar der Bilder an, die nach 39 in den Depots verschwanden und für uns, d. h. in Deutschland durch die Berliner Ausstellung „Unerwartete Begegnungen“(1990) wieder ans Licht kam.
Diese überraschende Vielzahl der überzeugenden bildlichen Begegnungen nur mit zwei weiteren Bildern in dieser Art: zwei Künstler mit dem Nachnamen Skulme: links Stillleben von Uga Skulme, um 1925. Rechts Portätkomposition von Oto Skulme. Beide überzeugen trotz puristischer Einzelheiten mit einer konsequente Gegenständlichkeit. In einer Auf-und Draufsicht wird die Perspektive im Bildraum zugespitzt und konzentriert, die Farben von braunrot bis metallik-weiß werden delikat und glänzend bis zur gezierten Haltung des Weinglases durchgespielt. Zwischen Madonnenklause und Cafehausseligkeit pendeln sich die Eindrücke ein. Der Betrachter kann mitgenießen.
Links Jekas Kazaks „ Damen am Strand 1920. Rechts Alechsandra Belcova, Die Weiße und die Schwarze 1925
Links: die große gebundenen rote Schleife, der auf die Hüfte gelegte Unterarm und der Schirm nehmen die „ lettische“ Farbe auf, unterstützt durch das Weiß der Kleider.
Die Weiße und die Schwarze ist ein Schlüsselwerk nicht nur der lettischen Malerei dieser Epoche. (100 x 120).Vorbehalt gegenüber dem formalen Experiment, der Hang zum Gegenstand, die Neigung zu klaren, ornamentalen Kompositionen zeichnen diese Bilder aus. Magisch in der Wirkung, dies unterstützt durch die Lilie und den Buddhastatue. Diwan und Raum in einem Farbton und stereometrische Faltungen in Kleid und Kissen. Die Blicke der beiden Frauen geht an den Besuchern vorbei. Auch die Erinnerung an Manets Olympia ist da, aber Vorder- und Hintergrund ausgetauscht. Die Hierarchie von Dame und Dienerin gewechselt.
Frieden da – hier Krieg:
In dieser Zeit von 1910- 1935 gab es auch sozialkritische, das Milieu im eigenen Land und auch überregional karikierende und anklagende Kunst . Ein Phänomen der Groteske waren seine Arbeiten und ein Bürgerschreck für die Umwelt war Karlis Padegs. Titel seiner Bilder irritierten wie :“ Madonna mit dem Maschinengewehr“.“ Hut mit eingesticktem Totenkopf und Knochenkreuz“. Hier nun –links- Titel :“ meine Geliebte von der Straße“ 193o,Papier/Tusche. Rechts „Widmung an das Jahr 1918″, 1935 entstanden.(Papier, Tusche, Aquarell).Ein zartes Frauengesicht im Hintergrund, Mund und Augen akzentuiert. Davor der erste Weltkrieg im Gesicht….In einer Zeit, als die Mehrheit der Gesellschaft selbstzufrieden alles Unangenehme zu verdrängen suchte, erklärte Padegs: …“ wenn andere hübsche Blümlein und rosa Wölkchen zeichnen. Sollen sie mich doch zeichnen lassen, was ich will. Ich will die Schattenseiten des Lebens zeigen, das, was wir gerne übersehen, um uns nicht unser Wohlbehagen und unseren Appetit zu verderben.“
Links „Cabaret“ von 1935 und rechts „Five o clock im Leichenschauhaus“ 1935.Padehs Kunst war für Lettland ungewohnt und man suchte seine Geistesverwandten im Ausland Beardsley, Toulouse- Lautrec, Kokoschka, Munch oder Dichter wie Villons und Baudelaire: … der gemalte Pessimismus. Wir sehen auch sonst bei Padegs den Kontrast der Schönheit der menschlichen Körperlinie mit den abscheulichen Umständen und der grässlichen Umwelt, in die diese Welt des Herrn eingekerkert ist. So wird Padegh zu einem Maler des Weltschmerzes und der tiefen Verstimmung…“
1935 ist das Entstehungsjahr dieser beiden Arbeiten.
Aber:
im gleichen Jahr wird die Statue Lettlands,
das Freiheitsdenkmal von Karlis Zale fertig.
Beginnt man einen Rundgang durch Riga wird als Anfang das Freiheitsdenkmal, eine für die Letten fast heilige Stätte, genannt.
Zwar ist Karlis Zale in Litauen 1888 geboren)- von 1931- 35 arbeitet er die Statue.(Die mittlere Gruppe bekundet die Bereitschaft sich mit eigenen Kräften zu schützen (die „ Vertraue auf deine Arbeit“), die Fesseln der Unterdrückung zu zerreißen, sich zum Kampf gegen feindliche Mächte zu erheben und auch die Jugend zum Kampf aufzurufen. Gekrönt wird das Denkmal von der Freiheitsstatue, einer in Kupfer geschmiedeten Frauenfigur, die in den hocherhobenen Händen drei Sterne hält: das Symbol der Einheitlichkeit, der drei kulturgeschichtlichen Regionen Lettlands: Vidzeme(Livland NO), Kurzeme( Kurland NW) und Latgale(Lettgallen O). Die Gestalt der Freiheit drückt die Sehnsucht des lettischen Volkes aus – die Einheit und die Freiheit Lettlands über alles zu stellen: die eigenen Sterne mit erhobenen Armen und in den Händen in den Himmel zu heben und zu halten. Herders philosophische menschliche Prämisse umgekehrt: der Mensch erhebt sich zu den Sternen.
Noch ein Denkmal, aber von heute: Als„Vicious cirle“, Circulus Vitiosus oder deutsch Teufelskreis leuchtet das Europablau mit den 12 Sternen. Eine Arbeit, 2004 entstanden, der Lettin Inguna Elere, 1969 geboren. Objekt aus Plexiglas, innen beleuchtet. Skeptisch und abwartend die Interpretation der Künstlerin: „ … Form und Proportionen des Steins erinnern an ein echtes Denkmal, aber an der Stelle des Lorbeerkranzes befindet sich der Sternenkreis der EU. Ich glaube, dass ich die Eignung dieses Grabsteins erst in ein paar Jahren werde beurteilen können.“
Immerhin leuchtet es Europablau aus einem geöffneten Sargähnlichem Objekt auf dem rechten Dia:
Eine abwartende Haltung wie Elena Igune nehmen die Famous Five ( es sind drei : Ieva Rubeze (geb.1977), Martins Ratniks( geb. 1975) und Liga Marcinkevica 1957 geb.) mit ihrer Videoinstallation „ Time will show“ von 2oo3 – o4 ein. Sie gruppierten sich schon während des Studiums der Visuellen Kommunikation an der Kunstakademie in Riga 1998 und beteiligten sich an internationalen Veranstaltungen in Rotterdam, Helsinki, sowie an Bienalen von Venedig und Sao Paolo. Betritt man die Ausstellung irritiert und füllt ein Belcanto italienischer Tenöre akustisch die Räume und lockt an. Dann steht man vor einer riesigen Altaranlage mit künstlichen Blumen reihenweise bergan in aller Couleur geschmückt.(Dia) Das Kopfteil ist geöffnet, man liest auf der ausgepolsterten Innenwand des Deckels „ Time will show“. Da wo der Kopf sich befinden könnte, läuft ein Monitor mit landschaftlichen Eindrücken aus Flora und Faune.(Dia) Wird hier nur die Vergötzung der neuen Medien mit einer erfundenen Kulturzeremonie völlig lächerlich gemacht ? Oder werden auch heimische Rituale, folkloristische Ideen gekonnt mit einbezogen und ergeben einen vertraut befremdlichen Reiz einer irrationalen Welt, die anzieht, aber auch Verweigerung erzeugt.
Die Blumen blühen, der Blick in die Vergänglichkeit geöffnet…
Hier folgte ein Rückblick auf die zwei Eisensteins , dem Jugendstilarchitekten und Baumeister Rigas und seine genialischen Sohnes Sergej, der Besondere aus Riga gebürtig, genialisch, unheimlich, revolutionär.
Die Zeichnung hat den Titel : Erinnerung an die Kindheit in Riga (1942). Das Foto ist auch in Clownspose. Titel: „ beim Proletkult“.
Erst im letzten Jahrhundert hat sich eine lettische Identität herausbilden können, die in der zeitgenössischen Kunst, der bildenden Kunst zu erkennen ist, aber auch in Beziehung zu den großen Kunstströmungen der Zeit steht. Denn viele lettische Künstler gingen in die Kunstzentren Europas, Paris, Brüssel, Amsterdam, Berlin, München Dresden.
Trotzdem konnte sich hier der nationale Geist ausdrücken oder fassbar werden, in eigenartiger Verschmelzung der Eindrücke von außen.
Sehen wir uns zeitgenössische Beispiel an:
Jetzt keine Filmbilder , sondern Malerei.
Links: Maija- Nora Tabaka, „Colonnade“ 100 x 125, öl auf LW. 1998: Zwei Partygirls im Grünen: ein illustres Piknik am Fluß. Ein Sektfrühstück vor allen Jahreszeiten: dem Winter ,Frühling, Sommer, Herbst. Wasserwesen, Nixen, Seejungfrauen steigen aus dem unteren Bildrand wie aus den Wassern auf. Zwei weibliche Gestalten modisch und kosmetisch- erotisch aufgepeppt,zum Maskenball bereit,aber auch nahe an der farbigen Folklore sind auf der linken Bildhälfte einer magisch aufgehellten Flusslandschaft im Frühling zugeordnet. Eine Trauerweide teilt das Bild, dann eine Parklandschaft mit der Freiheitsdenkmal im Hintergrund, also Nähe zu Riga. Tabaka geb. 1939 geboren gehört zur Generation, die in perfekt- brillanter Malerei ihre eigenen philosphischen, märchenhaften Naturmythen malte und auch mit Erfolg ausstellte.
Rechts: Miervaldis Polis“ Die Frau von Kurzmene ( Kurland) und ein Falke.“100 x 80 Acryl auf lw,1997.Eine in einer Tracht gekleidete-(Originaltracht der Kurlander) geht wie eine Nachtwandlerin durch das Bild. Eine symmetrisch aufgebaute Landschaft als Hintergrund: aus horizontalem Ufergelände mit Baum aus runder Krone, eine Insel, ein Eiland von Wassern umgeben im Sonnenuntergang oder -Aufgang. Mond , Sterne, rosa Spiegelung der aufgehenden Sonn im Wasser. Der aufgescheucht oder angreifende Falke vor dem Baum.
Polis ist 1948 geboren. Er sagt: „Die Notwendigkeit das europäische Kulturerbe zu akzeptieren während zur gleiche Zeit das künstlerische Ego sich entwickeln muß und teilhat an unsere Kultur; gewinnt man neue Geschichten: Künstler Geschichten, die die niemals endende Erzählung der geistigen Möglichkeiten, Täuschungen und moralischen Siege der Menschheit erzählen.“
Links Inga Bruvere „ Twelwe“ ( 12? ) 55 x 75 öl auf lw, 1998)
Sie ist 1963 geboren, sie gehört zur jüngeren Generation. Zwölf?: die Leinwand ist mit zwölf dunkelblauen Spiralformen auf blauer Fläche versehen. Darauf eine in kräftig-orangefarbener Linie umrandete Augenannäherung mit Aufhellung nach Innen. Die kräftigen Farben sind aufgesetzt und der Hintergrund hellt in der Nähe der Linie auf, so dass die Spiralformen als scharfe Kontur und Ritzung durchdringen. Was tut sie? Sie malt: Farbe ist für sie die dominierende Kraft. Aber auf der anderen Seite ist es das einzige Medium, die Flachware Leinwand munter zu machen und eine magisch sinnliche Dimension auf diesem sancrosancten Viereck zu schaffen.
Rechts: Ilmars Blumbergs Servin. Fade out ( Portion.Abblenden) 210 x 155 acryl a.Pappe) 1993. Blumbergs,1943 geboren ist ein vielfältig begabter. Theaterplakate, Bühnenbilder, Illustrator, Designer, Maler. Das hier ist eines von vier Bildern, das letzte. Eine Figur am Abgrund, in ihn hineinblickend. Die Tiefe ist ein Lichtkreis. Umgeben von blauer Aura die ganze Figur, zum schwarzen Zeichen gebogen, jedoch mit einem Gehirn wie ein Sonnenball. „Abblenden bzw. Ausblenden“ der Titel.“ Im Bewusstsein der Kunst haben Denken und Verstehen ihr eigenes Schicksal“ sagt er.
Zwei Arbeiten von Ieva Iltners“s ( geb. 1957)
Links der Titel „Mann und Frau- Hase“. Der Titel spricht fürs Bild , man sieht es. Öl auf Leinwand. 1992. Freundliche Symbiose im Tierfell oder Monster auf Blümchenwiese. Differenzierter das rechte Bild : Alternative. Zwei Blasen mit Embryos, das Profil einer Frau mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Sind es Sprechblasen, atmet sie , spricht sie? Iltnere malt in schwarz –weiß. Sie porträtiert Zukünftiges wie alternative Modells mit realen Gefühlen, außerordentlich schön, aber gleichzeitig voller schmerzlicher Einsamkeit. Sie sagt: „Manchmal kann Verlassenheit und der schrecklichste Schmerz Hinter oder in der größten Schönheit versteckt sein.“
Der Magie, dem unendlich Sog des Meeres ist Dace Liela ( geb. 1957) in ihren Bildern erlegen. Die Landschaft Lettlands hat es ihr angetan. Die fibrierenden und glitzernden Farben, das neblig trübe Raunen der Wasseroberflächen im Allover, die ganze Fläche einnehmend, lassen wie Erscheinungen aus dem Jenseits drei weißbefrackte mit schwarzen Fliegen aus dem Meer-im tänzerischen Gleichschritt- auftauchen: Farbe gibt es als Frisur in Blau, Orange und Weiß. Das Meer ist spannend gemalt: weiße Punkte leuchten auf und darunter erscheint wie in kleinen Fetzen die Farbe rot. Unheimlich das Ganze, aber auch gleichzeitig drei gutgelaunte Entertainer aus dem Buisiness oder Jazzkonzert. Ein Sigmar Polke mit lettischer Kraft. Links: „die beleuchtete See“ 1996. Die Frau am Meer in zartester Zeichnung mit Brosche. Der Schmuck hält nicht nur den Umhang ,zentriert auch das Bild. Zweimal untergegangene Seelen oder ein beseeltes Meer? Die Bilder sind Zeichen einer unheimlich sinnlichen und verletzlichen Welt.
Eine Malerei, die in vertikalen Linien und Strichen den Eindruck der Fotographie vermittelt. Die Malerei des bekanntesten lettischen Künstlers zur Zeit : Ritums Ivanovs. ( 1968 geb.).Rechts heißt Die Hitze ist 160 x 145 ,1998 , Acryl auf Lw. Links aus seiner Serie „Erotic Movie“, 15ox185 Acryl auf Leinwand. In seinen Arbeiten verbindet er eine hyperrealistische Darstellung der Wirklichkeit mit der Wirkung vergrößerter Ansichten filmischer Einzelbilder und mit einer für die Op-art typischen leuchtenden Polychromie. Die Kamera hilft ihm, jedoch das Gemälde ist von Hand. Die Hauptthemen der Arbeiten von Ritums Ivanovs sind Gefühle und unterschiedliche Stimmungen der Menschen. Seine Bilder präsentieren reale Menschen aus seinem Leben ( Einzelschau Mädchen), Fotografien aus Druckwerken, aus Büchern zur Kunstgeschichte ( Einzelschau Helden) und aus der Werbung für das Show-Business ( Depeche Mode- Porträts), ebenso aus Erotik- Magazinen. Er stellt nicht nur in Riga, Moskau aus, auch in London, Paris, Bremen und kürzlich in Berlin.
Aber nicht nur Malerei, auch die Skulptur von heute lässt sich ansehen: Links: neun Steinfrauen ( 38cm hoch), Granit, Labradorite und Kalkstein 1999 von Laimonis Blumbergs, ein Kunstveteran 1919 geboren. ER nutzt die Steine aus Lettland Muschelkalk auch Pophyr und schafft diese weiblichen Gestalten bzw. Gottheiten und stellt sie in Gruppen zusammen.Hier nun die handschmeichelnde Variante aus Lettland. Rechts eine Arbeit von Pauls Jauzems „ Himmel“ aus poliertem Granit 1999 ( 38x52x42). Möge der Himmel halten ?! Bei Jauzems wird die schwere Horizontale im Gleichgewicht auf den vertikalen Sockel gelegt „aufgespitzt“. Nicht den Himmel erstürmend, sondern Stein ist der Himmel selbst. Das Leichte wird schwer, das Schwere leicht.
Filme und Videoinstallation sind der Bereich der neuen Medien in denen sich auch die Letten tummeln und zurechtfinden.
Im Filmprogramm EU positiv lief auch ein Film von Laila Pakalnina: der Bus 2004 entstanden ein 55 minütiger Film in epischen Szenen, der die Reise mit dem Bus von Tallin über drei Grenzübergänge nach Kalinigrad schildert. Szenen im Bus, das Schminken für den nächsten Halt und außerhalb: Wiedersehn und Abschied.
Eine junge Künstlerin ( 1979 geboren), die mit ihren Videoarbeiten über Lettland weit hinaus bekannt ist., London, Berlin z.B. Ihr Name: Kristine Kursisas. Ihr Lebensgefühl ist dem von Famous Five sehr ähnlich. In ihrem Filmen kippen dokumentarisch festgehaltenen Alltagsbeobachtungen unerwartet in fast traumwandlerische Albträume um. Sie erzählt Geschichten in ihren Filmen , die Frauen zeigen, die weit entfernt von der praktizierten Kunstszene sind. Sie baut eine Art mobilen Pavillon mit eingebautem Hauskino. Der Zuschauer sitzt in einer Zimmersituation mit tapezierten Wänden und unangenehm gepolsterten alten Stühlen. Sie trifft den Eindruck zwischen privater Wohnung und Bordell. Die Muffigkeit und Enge im Raum stimmen den Besucher auf die zu erzählende Filmstory ein. Keine spannende Aktionen, Monotonie und sinnlose Handlungen. Gleichzeitig wirken die Machtspiel zwischen Mann und Frau beklemmend. Sie erforscht mit ihren künstlerischen Einsätzen wie soziale Bedingungen- vor allem das Wohnen- auf psychische Zustände wirken.
Ein Fotograf aus Lettland , der in 21 Digitalfotografien, je 49 x 49 cm, das Thema Moorland öffentlich gemacht hat, ist Kaspars Goba. Zwei Beispiele seiner sozial engagierten Arbeit.
Links Leonid Dranikow (65) ist pensionierter Lokomotivführer. Rechts der heutige Lokomotivführer mit Schäferhund. Das Sedaer Moor wird von dem längsten Schmalspurnetz im Baltikum durchkreuzt. Fast alle Arbeiter sind ehemalige Immigranten aus Rußland, Ukraine, Weißrußland, Litauen. Es ist eine Gesellschaft im Stillstand.Noch nicht in Lettland angekommen, dafür aber ein Mikrokosmos der nicht mehr vorhandenen Sowjetunion mitten in Europa. Eine Fotoarbeit von Kaspas Goba.
Von hieraus einen Riesenschritt nach Amerika:
Die 1938 in Riga geborene Vija Celmins lebt und arbeitet heute in Kalifornien. Auf der Flucht aus Lettland kommt sie nach Deutschland, nach Esslingen. 1997 waren im Museum für Moderne Kunst innerhalb der Ausstellungsreihe Szenenwechsel in Frankfurt Arbeiten von ihr (in Frankfurt) zusehen. Sie malt die dampfende Suppe, den Augenblick des Auffüllens des Tellers mit der Kelle: die Handlung und die Wärme. Kunst ist still und tot, sagt sie, wenn sie, die Kunst, nicht mit Wärme und Feuer angeheizt wird. Sie sagt:“ Ich versuche etwas außerhalb von mir zu finden. Für mich ist da die Oberfläche, da bin ich, das sind meine Hände, da mein Auge: Ich male…“:
Die alltäglichen Dinge im Atelier: grau in grau, die Hintergründe und die Gegenstände, wenn sie nicht angeschaltet und zum Glühen gebracht werden.
In Variationen zeigt sie immer wieder elektrische Gebrauchsgegenstände im Gebrauch.
Links: Pan (Pfanne von 1964), rechts: heiße Platte (1964) Öl.a.Lw.
Flugzeuge: links Titel: deutsches Flugzeug 1966( öl a. Lw) (etwa 40 x 66) Rechts: suspended Plane, auch 1966 gemalt. Sie malt nicht aus eigner physischer Erfahrung.Sie sitzt nicht im Flugzeug. Sie sieht es. Eine vermittelte Sicht.
Fernsehen buchstabiert sie so (1964). Die Lampe , grau in grau leuchtet nicht und doch beobachtet sie wie ein Augenpaar. Die Natur in Grautönen, ob Wasser, Spinnweb Sternenhimmel, Wüsten, Mondlandschaften. Ihre Bilder werden nicht als Bilder von Sternen oder Wasser gesehen. „Ich sehe zeichnen als denken“, sagt sie.
Den rauchenden Revolver in der Hand, nicht der Schütze wird gezeigt, nur die Hand in Aktion. Dann aufrauschende Scheinwerfer eines Autos, eines Trucks, im Dunkeln. Die Szene eines Krimis ist perfekt. Grau bleibt die dominante Farbe, das rostbraun und weiß von einst haben sich zum Grau vermischt. Fremd fühlte sich Velmins in Deutschland und auch in Amerika. In Henning Mankells „Hunde von Riga“steht zu lesen: „Wallander überkam ein Gefühl der Trauer, als er die Landschaft betrachtete. Es war ihm, als habe die schmerzvolle Geschichte des Landes den Pinsel in einen niemals leer werdenden Eimer mit grauer Farbe getaucht“ S. 114
Der Wasserfall von Kuldiga / Goldingen. Und….
Die Krücken befreiend in die Luft werfen und singen. Ich zitiere Janis Peters:“ Der einzige Krieg, dessen wir uns rühmen, ist der Sängerkrieg. Das ist eine aus Urzeiten überlieferte Tradition: sich gegenseitig zu besingen, mit Liedern zu beschießen und einander zu besiegen trachten.“
Roswitha Siewert