„Wir haben ohne Geschichte gelebt wie ein Baum ohne Wurzel.“
Litauens kulturelle Selbstbehauptung mit intensiver Rückbesinnung zur eigenen Tradition findet im Dialog der Vielstimmigkeit Europas eine aufregend neue Form.
Abb. Petras Mazuras, Citrus. Installation. Baum, Stein, 2004
Vortrag von Roswitha Siewert am 6. September 2005 in der Volkshochschule Lübeck:
Das aktuelle Thema ist angekündigt: die erweiterte Kunst Europas. Heute: Das Beispiel Litauen. Es folgen Slowenien, Tschechien und Zypern. Bei aller Begeisterung für die Europaidee, die in der Europäischen Union eine reale Chance zur Verwirklichung hat oder sagt man richtiger hätte, zunächst ein paar Bedenkminuten.
Was hält Europa noch zusammen? Eine Situation zum Zerreißen? Der Reißverschluss ist geplatzt. Sicherheitsnadeln halten die Teile. Hände – höchst gepflegt, vielleicht auch geziert – versuchen die getrennten Verschlussteile wieder zusammenzustecken. Europa in der Krise! In einer tiefen Krise stellte der amtierende Ratspräsident Jean Claude Juncker fest.
Das war im Juni dieses Jahres: Die Volksabstimmungen in Frankreich und Holland mit Non und Nee (hier blökten selbst die Kühe mit Boe) und das Scheitern des Verfassungsreferendums – das Scheitern des EU-Gipfels in Brüssel – haben die Europäische Union in die Ratlosigkeit gestürzt. Die EU Faszination ist verebbt. Was bleibt ist zwar ein eindeutiges, freundliches bis gelangweiltes Ja zur EU der 25 Mitglieder als einzigartige V ö l k e r g e m e i n s c h a f t, die aber nur mit dem gemeinsamen Markt – einem gigantischen – im internationalen Wettbewerb mithalten könne, auch das ist bewusst. Aber wie bitte, das Ganze regeln? Die EU-Verfassung ist vorerst lahm gelegt.
Worum geht der Streit: „Zwei Philosophien stoßen aufeinander“: die einen, angeführt von den Briten, wollen eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft in der die Wirtschaft grenzenlos operieren kann, die andere Seite mit Deutschland als starken Fürsprecher fordern eine politische und soziale Solidargemeinschaft, in der auch Fragen des Verbraucherschutzes und Umweltschutzes gelöst werden.
Wie erscheint die Situation im Bild? Zu einem europäischen Schlachtfest (so der Titel) lässt der Karikaturist Tomicek den Mythos vom Raub der Europa durch den Göttervater Zeus in Stiergestalt verkommen: auf zwei Beinen nur noch steht die EU-Verfassung. Frankreichs „Non“ und Hollands „Nee“ sind verbundene Amputationen. Die Dame Europa freizügig griechisch wandet – kommt ins Schwitzen und blickt angstvoll in die Zukunft.
Im Vortrag über Ungarn sahen wir eine andere Europa: Ein vor Schmerz brüllender Stier. Tut sie es mit Worten und oder Schlägen? Oder treibt sie ihn an? Auch keine blumengeschmückte dahin schwimmende Harmonie der Entführung! Hoffen lässt das kleine Luxemburg. Es stimmte immerhin kürzlich mit ja zur Verfassung, trotzdem, der Brüssler Gipfel ist gescheitert. Die EU-Verfassung liegt auf Eis. Wie kriegt man nun die Kuh vom Eis? Was wird nun aus Europa?
Über den Grabsteinen von EU-Verfassung, EU-Identität, Euro-Stabilität und EU-Haushalt beginnen die Engel zu weinen, lassen die Friedenssymbole hängen (Karikatur Hainzinger). Jammernde Depression aufgesockelt über dm Grabstein EU-Haushalt. Der Nationalegoismus feiert mit eisgekühltem Sekt in einer aufgehängten Hängematte seinen Sieg und ruht sich wohlgenährt und sonnenbebrillt auf Kuschelkissen zwischen Grabsteinen, die ihn jetzt halten, aus. Die uralt Problematik der Deutschen, aber nicht nur: Zentralismus und Partikularismus (Karl der Große), heute Bund und Länder oder eben Nationalegoismus und europäische Union.
Mit siebzehn hat man noch Träume. Später nicht mehr: Schröder und Chirac.
Europa, wir brauchen dich. Armut in Europa-Arbeitsloser in der U-Bahn. Zwischen Euphorie in die Zukunft und grauer Tristesse pendelt sich Europa ein. L i t a u e n, das Energiebündel, steht zwischen dem Prinzip Hoffnung und der tatsächliche Not, sie kann durch das Rekordwachstum nicht ganz weggetüncht werden. Die Arbeitslosigkeit liegt auf deutschem Niveau. Der Durchschnittslohn beträgt 300 Euro. Davon kann man nur in Litauen leben. Trotzdem gibt es Optimismus: „Europa, das ist Freiheit“, weiß der Student Liuturas zu sagen „Warum soll ich jammern?“
Aber – bei uns – wird weiter diskutiert, am 1. September auch in der MuK in Lübeck, nicht nur allgemeine auch regionale Belange: Promis diskutierten mit Maybritt Illner über das Thema. Was ist zu ändern: Wildwuchs in der Wirtschaft: Das Nein zur EU-Verfassung ist ein Protest gegen den ökonomischen Wildwuchs. Die Marktwirtschaft muss reformiert werden. Immer wieder liest man über die Probleme, Fragen, Nöte und mögliche Lösungen der europäischen Sinnkrise. Gesetze und Verordnungen aus Brüssel gehören auch in Schleswig-Holstein längst zum Alltag. Nur zwei Beispiele aus dem Euro Alphabet: Ausschreibungen: Bauvorhaben des Gebäudemanagements Schleswig-Holstein (GMSH), das die Immobilien des Landes verwaltet, müssen europaweit ausgeschrieben werden. UND: Wanderarbeiter – u. B. Spargelstecher oder Erdbeerpflücker – die aus den Mitgliedstaaten kommen, sind laut EU- Verordnung in ihrem Gastland automatisch krankenversichert. Diese Dinge sind handfest und bestimmen den Alltag im sozialen Umgang. Letzten Sonnabend 3. September ging der Hilferuf durch die Gazetten: Gefährdet EU-Gesetz das deutsche Handwerk? Nach den EU-Dienstleistungsrichtlinien müsste sich der Dienstleister nicht mehr den staatlichen Bestimmungen des Landes unterordnen, in denen er Dienstleistungen anbietet, sondern er ist den Kontrollen des Herkunftslandes verpflichtet. Wie abhängig sind da die produzierte Kunst, die die absolute Freiheitsgloriole sich auf den Banner geschrieben hat, muss sie den politischen und Wirtschaftliche Vorgaben entsprechen? Fragen, die uns schon beschäftigt haben und auch immer wieder werden. Was betrifft den Festival-trunkenen, Fußball-begeisterten und Wahl-National-Egozentrierten Bürger, was lässt ihn aufhorchen, ansehen, irritieren: wenn es um Europa und die Kunstangelegenheiten in einem relativ kleinen Land wie Litauen geht?
Dia:Interessiert sich SH für Europa? Was tut ein Europa-Abgeordneter wie Reimer Böge für SH? Verhandeln z.B., dass die Fördermittel aus der EU in Höhe von 650 Millionen Euro für die Finanzplanung nach 2007 erhalten bleibt, wie es für den Zeitraum 2000-2006 war. Wichtige Landesprogramme hängen daran, auch für Lübeck. „Verfasst oder fassungslos. Europa geht weiter.“ heißt die Devise. Mit Sicherheitsnadel.
Litauen: beginnen wir: orientieren wir uns über Land, Leute und Geschichte, dies in Schlaglichtern, um uns dann die heutige Kunst anzusehen.
Litauen: Nun kommt Farbe auf: Die litauische Flagge. Sie wurde am 18.11.1988 eingeführt. Gelb steht für die Sonne, das Licht, den Reichtum, die Würde und das Gute. Grün steht für die Vegetation, den Glauben, die Freiheit und das Glück. Rot ist das Blut, das für das Vaterland vergossen wurde. Regenbogenfarben ohne die Übergänge am Himmel.
Fast zum dekorativen Streifen wird die Flagge auf der anderen Seite für das vertraute Foto Thomas Mann mit einem Teil seiner Familie am Strand von Nidden (Kurische Nehrung bei Klaipeda).Hier verbrachte er 193o und 32 seine Ferien und begann Joseph und seine Brüder zu schreiben. So designet erscheint Litauen in Lübecks Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010. Zwei Städte, das alte Memel (Klaipeda) und Vilnius, die Hauptstadt sind zu entdecken.
Das Ferienhaus von Thomas Mann und rechts er selbst in Nidden 1932.
Idyllisch: die alten Holzhäuser der Fischer von Juodkrante (Schwarzort) auf der Kurischen Nehrung. Rechts ein Blick auf die Hauptstadt Vilnius mit ihren vielen Kirchturmspitzen. Sie erinnert mehr an eine südliche Metropole durch die Vielzahl der barocken Türme. Als litauisches Jerusalem wird Vilnius gefeiert und ist mit seinen unzähligen barocken Kirchtürmen auf Krakau und Warschau hin orientiert.
Litauen ist der „untere der drei baltischen Staaten. Er ist der größte der drei baltischen Staaten (3,4 Mio. Einwohner, Fläche 65.200 qkm (d. H. ca. 121 % der Einwohnerzahl Schleswig-Holsteins, aber mehr als 4mal größer als Schleswig-Holstein. (Einwohner: Litauer ca. 80 %, Russen ca. 9 % Polen 7 % sonstige 4 %. Der Staatspräsident ist Valdas Adamkus.
Die Geschichte: Nicht ohne Grund werden die baltischen Staaten in der UdSSR „sowjetisches Westeuropa“ genannt. Aus unserer Sicht (ich spreche jetzt für meine Generation) bedeutete das politische Begriffsmonster „ Ostblock“ alle Landschaften Städte, Sprachen, Kulturen jenseits der Elbe und war aus dem Bewusstsein Westeuropas gelöscht. Heute schärfen die Künstler dieser Länder wieder die im dualen Blockdenken abgestumpften Sinne für die alten, fast schon verlorenen Übergänge und Grenzen mitteleuropäischer Kulturlandschaften. Ihre Arbeiten sind Erinnerungshilfen, das historische und kulturelle „Niemandsland“ mit neuen Bildern zu beleben. Oder ist Europa immer noch durch die Mauer der Nichtwahrnehmung geteilt? Europäisierung Europas?
Litauen ist „ländlich und tief katholisch.“ Nirgendwo sind so viel Himmel / wie Zwiebel Häute hat“ (Johannes Bobronski)
Ein Pilgerziel: die dunkle Madonna in der Ausros-Torkapelle. Wegen ihrer Hautfarbe auch schwarze Madonna genannte Heilige ist ein 400jahre altes Wunder. Müde senkt sie das Haupt und schaut zu Boden, als habe sie alles Böses gesehen und jedem verziehen. Das war Schwerstarbeit für sie: Vilnius wurde 1922 Polen einverleibt, dann zweimal von den Sowjets okkupiert , die Litauen von 1940-1941 und wieder 1944 bis 1990 besetzten, in der Zwischenphase zwischen 1941-44 wüteten die Nazis im Land. 200.000 Juden wurden in Vilnius ermordet, nur 3.000 von ihnen überlebten. Diese Kapelle ist nicht größer als eine Garage. Viele Geheilte und Getröstete haben sich mit Herzen und Skulpturen aus Silber bedankt und den Ort mit ihren Gaben in eine Schmuckschatulle verwandelt. Die Betenden würdigen die Pracht nur flüchtig, ihre Blicke sind nach innen gekehrt. Viele Gläubige pilgern hierher, seit der litauischen Unabhängigkeitserklärung am 11. März 1990 sind es über 100.000 Gläubige, 1993 sogar der Papst. – Die Kapelle ist nicht größer als eine Garage.
Zeichen den Dankes und des Widerstandes, des Glaubens und des Aberglaubens: der Berg der Kreuze bei Siailiai. Aus einem Bericht: „Unten am Parkplatz steht ein schnauzbärtiger Litauer und verkauft Halskreuze aus versilberten Blech: „Vor acht Jahren habe ich selbst ein zwei Meter langes Kreuz von Vilnius nach hier geschleppt, für die Toten vom Fernsehturm. 1991 walzten Sowjetpanzer vor dem Fernsehturm in Vilnius eine Menschenkette der litauischen Unabhängigkeitsbewegung nieder. „Ich wollte auch zum Fernsehturm, aber ich lag krank im Bett.“ Der Bericht endet: „Ein Regenbogen hängt über dem Berg, gelbgrünrot wie die litauischen Nationalfarben.“ Rechts Maria bei der Arbeit, ihre Schützlinge, die in Kreuzen – großen und kleinen – aus allen erdenklichen Materialien mit Rosenkränzen geschmückt zu einer großen Installation anhäuften. Erstmals massenhaft wurden sie für die Aufständischen aufgestellt , die 1830/31 und 1863 gegen das zaristische Russland kämpften. Während der sowjetischen Okkupation symbolisierten sie den Widerstand der Bevölkerung und waren der Regierung ein Dorn im Auge. 1961 und 1975 zerstörten sie mehr als 500 Kreuze. Vergeblich, es wurden immer wieder neue aufgestellt. 1993 besuchte der Papst auch diesen Wallfahrtsort.
Land und Leute in ihrer Umgebung, auf einer kleinen Insel vor der gotischen Wasserburg Hochzeit feiernd. Im 14. Jahrhundert wurde sie errichtet und ist für Touristen und Bewohner zwischen Wald und Wasser einen malerische Kulisse.
Eine historische Hochzeit scheint diese heutige Heirat einen Sinn zu geben: Zur Erinnerung an den Polen-Vortrag: die Zeit der Jagiellonen. Um 1370 ist Polen als Land vereint und erscheint als multireligiöser Vielvölkerstaat. Polen ist damals ein fester Bestandteil des christlichen Abendlandes, aber der letzte Piast Kazimierz ist ohne männlichen Nachfolger. Er hat aber die getaufte Königstochter Jadwiga. In Litauen herrscht der Großfürst Jagiello, sein Reich geht von der Ostsee bis ans schwarze Meer. Er lässt sich taufen und darf dann Ladwiga heiraten. Polen-Litauen vereint, reicht vom Mare balticum bis zur Krim. Der deutsche Orden, Konkurrent für Polen in der Christianisierung wird in der Schlacht von Tannenberg 1410 besiegt, damit ist der Weg zur Ostsee frei.Litauen ist Teil des goldenen Zeitalters der Jagiellonen.Mit dem polnischen Königshaus verbunden, telt das Land über Jahrhunderte das Schicksal seines Nachbarlandes:überrannt, geteilt, erobert und als Staat ausgelöscht von den europäischen Großmächten Russland, Österreich und Preußen. Nach einer kurzen Phase der Unabhängigkeit (1918 – 1940) marschiert Stalins Armee auf, Schergen ihrerseits deportieren bis zu 150.000 Litauer nach Sibirien.
Im März 1990 erklärt Litauen als erste baltische Sowjetrepublik seine Unabhängigkeit von der UdSSR, Moskau reagiert mit Wirtschaftsblockade und Einmarsch der Armee. Am 6. September 1991 gibt Russlands neuer Präsident Boris Jelzin dem Freiheitswillen der Litauer nach. Elf Tage später wird Litauen in die Vereinten Nationen aufgenommen. Am 1. Mai 2004 wird Litauen Mitglied der EU.
Wie kann man auf soviel Geschichte und Leid als künstlerischer Chronist reagieren?
Antanas Stutkus ist seit langem einer der bedeutendsten Fotografen Ost und Mitteleuropas. Vor 15 Jahren firmierte er noch als sowjetischer Fotokünstler. Links in seinem Arbeitszimmer. Rechts ein Foto von 102 gezeigten Fotografien aus den Jahren 1959 – 1997. Es sind Vergrößerungen von Negativen aus dem Archiv des Künstlers. Mit dem Untergang des Sowjetreiches hat er sein Thema verloren und widmet sich seither seinem Archiv aus über 700.000 Negativen von denen eben 102 zu sehen waren. Wie eine Fotoschleuse empfing den Ausstellungsbesucher (EU positiv 2004 in Berlin) das labyrinthische Fotoarchiv des litauischen Fotografen. Rechts: Eine Massen- oder Gruppenszene von ihm. Transparente und ein Lenin und Bulganinbild. Er konzentriert sich in diesen Gruppenaufnahmen auf den Einzelnen, das Individuum und zeigt in den scharf umrissenen Charakteren neben Spuren der sozialen Existent, der unterschiedlichen Generationen auch ihren inneren Zustand, den der Wut, des Widerstands, der Verzweiflung.
Seine Schwarzweißbilder geben Einblick den Alltag de „Homo sovjeticus“ zwischen Wladiwostok und Riga. „Es sind nüchterne Blicke ohne Eifer und Zorn in eine fremde, ärmliche und ritualisierte Welt, die von den Versatzstücken sowjetischer Einheitskultur gezeichnet ist…“ so Eckehard Gillen und Mattias Flügge im Kat. über Sutkus. Die Fotos sind weder verklärend, noch in kritischer Distanz, sondern voller positiver Anteilnahme für seine Zeitgenossen. Er dokumentiert die Tristesse einer angehaltenen Zeit zwischen 1959 und 1989.Die Bilder wirken wie Unikate, nicht wie flüchtige wiederholbare Abbilder. Einmaligkeit und Dauer sind in diesen Fotografien so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit. Die munteren Gesichter der Kinderpyramide am und auf den Motorrad. Mädchen schiebend und lenkend. Dann die besorgten Blicke der Landarbeiter mit voller Fuhre, die Hände , die nun ausruhen.
In den fotografischen Erzählungen verdichtet sich das Geschehen zu einer Erfahrung, die nicht verfügbar oder abrufbar ist wie der stete Informationsfluss der Bilder der Medien, der uns unempfindlich gegen die Erfahrung des Fremden Macht. Man muss genau hinsehen: Die Menschen sind für Sutkus Leidende und Handelnde, Opfer und Zeugen der Geschichte. Wenn er an die bedrückenden, schweren Sowjetzeiten erinnert, geht es ihm nicht darum zu moralisieren, zu entlarven , zu verurteilen, vielmehr will er Bilder und Fakten für sich sprechen lassen und so die emotionale Atmosphäre der Zeit wachrufen. Wir werden in die Vergangenheit zurücktransportiert, um Kälte und Hunger zu empfinden, Schweiß und Tränen der Leute zu spüren, genauso wie die kurzen freudigen Augenblicke persönlichen Glücks.
Weihnachten mit Schildkrötpuppe unterm Arm und Batterie in der Hand und der Abtransport des ausgedienten Weihnachtsbaumes an klassizistischer Architektur vorbei. Die Bilder erscheinen emotional und traurig vielleicht auch bisweilen schmerzhaft, zerbrechlich und vergänglich. Nie greift er inszenierend in die Situation ein oder überhöht die Bilder durch monumentale Effekte. Er vermeidet das Groteske, Ist aber auch kein passiver Beobachter, Keine pathetische Verdichtung. Seine Bilder sind keine Reportagen, der Fotograf agiert sozusagen als Autor eigener Erfahrung erzählt. Erzählt wird von einer Vergangenheit, die uns sehr weit entfernt und fremd vorkommt, die aber immer noch schmerzt.
Ins heute: ein Paradies der weißen Strände des blauen Meeres und der Himmel. Zwischen
Distanz und Nähe hin- und hergerissen, sehen wir vertraute Landschaftsbilder, ein Blau, das wie am Mittelmeer leuchtet und erschrecken darüber, wie fremd und entlegen uns dieser Kulturraum geworden ist. Dünen, die an die Sahara erinnern. Das Baltikum wird als Urlaubsland gepriesen: Geworben wird: Wo Himmel unvergesslich bleibt, Wo Sonne die Ostsee vergoldet. Wo Geschichte Eigenart stiftet. Wo Zukunft zurückkehrt…
Vertraut ist uns aber Ännchen von Tharau als Jedermanns Darling im Prospekt bezeichnet, für uns wohl mehr ein Ohrwurm aus Kindertagen.Sie ist die bezopfte Bronzefigur vor dem Theater in Klaipeda (Memel). Der Standort war beliebt 1912 wurde die Figur auf dem Simon Dach Brunnen enthüllt. 1939 musste Ännchen einer Hitlerbüste Platz machen, später stand dort ein Sowjetpanzer, 1989 kehrte Ännchen von Tharau auf ihren Platz zurück, als Nachguss und Geschenk ehemaliger Memeler an Klaipeda. Ännchen von Tharau hat gelebt. Sie stammte aus dem Dorf Tharau und hieß Anna Neander. Als Ännchen 1636 den Pastor Johannes Portatius heiratet, verfasste sein Freund, der Barockdichter Simon Dach das Lied, er mochte wohl auch die Braut. Heinrich Albert vertonte es, damals noch in Plattdeutsch „Anke van Tharaw“. Herder übersetzte es ins Hochdeutsche und damit begann das Lied seinen Siegeszug… bis heute.
Ännchen als Statue und zwei Kleine im Brunnen spielend.
Darius Ziura (geb. 1968 in Vilnius, lebt auch da) hat Portraitvideos von den Bewohnern seiner Heimatstadt aufgenommen. 2001 entstanden. Er nutzt das Video im Sinne der klassischen Portraitmalerei. Aber diese Gemälde halten jeweils nur für eine Minute. „Ännchen“ als fragender Teenager, ernste bewusste junge Frau…vor gemusterter Tapete…
Aber Ziura zeigt auch andere Gesichter: zwei Frauen mit Kopftuch: ohne in die Kopftuch Diskussion einzusteigen: ein Kopftuch wärmt auch, zwei warmherzige Frauen.
Ohne Kopftuch, dafür ein Litauer mit Baskenmütze wohl eher dem pastoralen Intellektuellen nahe, ein Pastor Johannes Postatius von heute. Links sein Ännchen?
Rechts: Ein Widerspruch vom Reinsten: als Asyl für Lenin, Stalin und Co in Grutas bei Druskinikai (Südlitauen). Hier gibt es Stalindenkmäler, Gulag-Wachtürme, sowjetische Propagandagemälde, Sprudelwasser-Stände und Tanzmusik, also eine Wochend-Eventkultur in kommunistischer Ära. Auf der einen Seite wird an die litauischen Opfer (360.000) der Moskauer Repression erinnert, aber viele legen auch den ausgemusterten Helden vergangener Zeiten Blumen hin. Initiator des Freilichtmuseums ist kein fehlgeleiteter Museumsmann, sondern Vilumas Malinauskas, der mit Zucht und Export von Pilzen Millionär wurde. Sein Vater und weitere Familienangehörige waren übrigens nach Sibirien verschleppt worden.
Aber es gibt auch einen Europa-Park in der Nähe von Vilnius. Eine umgestürzte Statue weist mit der Hand auf Türme von Fernsehern. Nicht nur eine Kunstinstallation, sondern mit Hunderten von ausgedienten Fernsehapparaten zur größten Skulptur der Welt aufgestapelt, kam Gintaras Karosas, der Gründer des Parks in das „Guinness Buch der Rekorde“. In sumpfiger Gegend hat der junge litauische Bildhauer Karosas einen Skulpturen Park aufgebaut. Er hielt diesen Ort für den Mittelpunkt Europas. Aber nicht nur er: die Selbstauflösung der Sowjetunion und das plötzliche Verschwinden des „Ostblocks lenkte für einen historischen Moment lang die Aufmerksamkeit auf Litauen. Das französische Nationale Geographische Institut veröffentliche ein Ergebnis seiner selbst durchgeführten Messungen. Danach liegt das geographische Zentrum Europas 25 Kilometer nördliche3 von Vilnius. Zentrum wäre 54.54 – nördlicher Breite und 25.19 östlicher Länge. Das ist 14 km nördlich des Parks. Aber immerhin war die Tatsache geographisches Zentrums Europas mit der Anlass in der Gegend einen Skulpturenpark zu gründen. Karosas sagt: Ich hatte schon 1987, da war ich 19 Jahre alt – die Idee einen Skulpturenpark zu gründen.“ Aber erst 1993 begann die Arbeit.
Die Skulpturen stammen nicht nur aus Litauen, sondern aus 30 weiteren Ländern. Z.B. von der Polin Magdalena Abramowics „Space of Unknown Groth“, aus Beton geformte Findlinge, die in einer Senke gestellt wurden und in der Zeit mit Moos bewachsen sind. Ein Spielplatz für Kinder. Rechts die Doppel-Negativ-Pyramide“ von dem Amerikaner Sol Lewitt. Die Skulptur reagiert auf die Landschaft: sie steht am Ufer und spiegelt sich im Wasser wieder. Die ruhige Oberfläche spiegelt die grafischen Formen wieder.
Mikalojus Ciulionis. Werner Haftmann sagte einst dass große Kunst ist das, was große Künstler machen. Seine Bilder schätze er in der Herausbildung zum Abstrakten hin. Ein ungewöhnlicher Künstler, 1875 in Varena/Litauen, 1911 in Warschau gestorben. Blick in eine Arbeit von Mikalojus Ciurlionis. Er studierte als musikalisch talentierter Sohn eines Kirchenorganisten in der Orchesterschule am Warschauer Institut und von 19o1/o2 am kaiserlichen Konservatorium in Leipzig. Als ausgebildeter Komponist beginnt er das Kunststudium. Von 1903 bis 1905 malt er symbolistische Zyklen: betitelt z. B. „Beerdigungssymphonie“, „die Sintflut“, „die Erschaffung der Welt“, später Werkzyklen: Frühling, Sommer, Winter, Tierkreiszeichen. Visuelle Elemente der Natur werden mit sinnlichen Abstraktionen von Linien und Farben verbunden. Hier Pastell auf Papier zwei Ausschnitte aus dem Zyklus Flut. Der Zyklus entstand 1904 also allgemeine Stilrichtung, Jugendstil, Kunst des Fin de siecle ( Wiener Sezession, Namen wie Odilon Redon, Serusier fallen ein. usw. Differenzierte wird er heute interpretiert: Das deutlich werdende Thema ist das der „ Verschwindens“, das hat nicht mit biblischen Mustern zu tun, sondern verweist auf Gedanken der Damaligen Avantgardekünstler das „ Nichts“ zu malen. Der Unterschied zu diesen Künstlern ist für Ciurlionis nach symbolischen und nicht nach formalen mitteln zu suchen, um dieses „Nichts“ auszudrücken. Dabei bevorzugt er grundlegende Archetypen :so entfaltet er etwa das Wechselspiel von Natur ( von spontanen Elementen) und Kultur ( den Bildern von Schiffen, Stränden und Städten) in eigenwilliger Weise, wobei ihm sowohl Symbole als auch Abstraktionen der Symbole zur Darstellung des Nichts dienen. Die Grasschlange, eine zentrale Figur in der baltischen Mythologie, verwandelt sich in abstrakte Farbschleier, eine Form von Nebelschwaden. Man bleibt mit dem Symbol immer mehr am Gegenständlichen: Rechts: Schlange, Himmel, Meer, Erde, Strand, Zaun, Landschaft. Links ein diagonal ansteigender Berg, der sich in seiner Farbe dampfend auflöst oder etwas abgibt, darüber Himmel mit unheimlicher Schlange. Wir sehen hier Ausschnitte aus dem zweiten und dem vierten Flutbild.
Dia: Die vier einzelnen Bilder der Flut nun links.( ungefähr 60 x 70 cm groß)Links Treppen stadtähnliches und zwei Hände , die sich zum Bogen erheben, architektonisches bzw, geometrisches. Hände und Grasschlange stiften eine Beziehung zwischen Himmel und Erde und über winden die Trennung.
Noch einmal ein Einblick in die zarten Gebilde von Ciurlionis. In seine Sonnensonate von 1907. Es hat die Titel wie die Sätze einer Sonate. Allegro Andante. Wir sehen in das Scherzo links und in das Finale rechts. Kunst aus Litauen , die Kunstgeschichte machte.
Lasar Segall ist in Wilna / Litauen geboren 1891 und starb 1967 in SaoPaulo/Brasilien. Das Thema ist Exil oder die Präsenz des Judentum in der litauischen Kunst.Das Thema Exil und Moderne wird augenblicklich in der Lübecker Kunsthalle gezeigt. Titel „Krankenstube“ von 1921 Öl auf Leinwand 240 x 173 in einer Privatsammlung in Sao Paulo.
1909 hatte er sein Debüt in der Berliner Sezssion. Galerie Gurlitt in Berlin stellte Arbeiten von ihm 1910 aus. Während des ersten Weltkrieges war er als russischer Staatsbürger in Meißen und Zittau interniert. Mitbegründer der „Dresdener Sezzionengruppe 1919″. usw…. Wir sehen ein gestaffelt aufgebautes Familienbild. Die Figuren aus spitzen dreieckigen Formen. Jüdische Thematik zur Metapher für das menschliche Schicksal. Aber wie? Vier Augenpaare: fast blind das eine Auge, das andere vor Mitleid blind, den Mund zu einem Wort geöffnet, hingeneigt zur Kranken, der Blick aber auf die rechte im Bild fixiert. Diese Figur; ein Auge schwarz, eins geöffnet zum Betrachter. Im Vordergrund ein nach Innen gewandetes, eins im Profil nach außen: der malende Chronist? Die Kranke hat nur noch ein geschlossenes Auge im Profil, aber die Hände: eine am Herzen ( Leben), eine wie gerahmt aber auch erstarrt auf dem Tisch: eine Krankheit zum Tod, eine andere Welt. Im Hintergrund ein aktuelles (1921) konstruktivistisches Gemälde.
Zwei Positionen aus der Großvater –Generation litauischer Künstler.
Nun die Väter, die auch heute noch ( zum Teil) aktiv: sind:
Links Saulis Vaitiekunas: Axis Mundi ( 14 x 5 x 4)Material: Feuerstein und Silber 1996 entstanden. Er ist 1953 in Vilnius geboren. Er sammelt Steine die von der Natur- durch die Wellen der Ostsee z.B.- geformt sind. Er bewahrt den organischen Umriss und ändert, variiert sie, indem er archaische Metallzeichen hinein graviert. Riesenumriss kontrastiert zu den reduzierten klaren Zeichen von Mercedes bis Antike bis Geometrie.
Rechts: Diesen Blick oder diesen Kuss der ganzen Welt, vielleicht kann ich hier wiederum die Europa-Hymne zitieren, aber wie: Guardian Angel( bewachender Engel) von Vygantas Paukste von 1990 ( 80 x 11o cm, Öl auf LW).Wer ist hier der Engel, woher kommt der Engel. Ist es das engelsgleiche, wellenbehaarte Wesen aus dem blauen Wasser oder das schwarze Wesen maskiert wie im Taucheranzug aus der grünen Landschaft mit gelbem Flügel oder Schwanzflosse oder ist sie einem Edgar Wallace Film entsprungen? Eine Umkehrung von Himmel und Erde und ihren Bewohnern . Oben ist nicht unten , unten nicht Oben? Eine Neusicht des Kosmos in Horizontalen?
Zwei weitere Positionen der Kunst bevor wir zu den Enkel kommen. Links : die Nonne im Wald von Algis Skackaukas, 1995 (130 X 100 cm, Öl a. Lw) ein Verbrechen, ein Mord, eine Vergewaltigung, farbenfroh, expressiv, flächig pointilistisch auf die Leinwand gebracht. Die figurative Horizontale ist mit den zögerlichen Baumstämmen in Vertikalen zaghaft komponiert.Aber nicht so in den Farben! Kann man ein Thema so als farbenfrohe Story malen… darstellen? Ein leidenschaftlicher Ausdruck in kontrastreichen Farben! Wir werden von den Enkeln andere Lösungen sehen!
Rechts: Fast an Tapisserien oder an mittelalterliche Teppiche oder Blumenreiche Stubentapeten ist der Gesamteindruck: Ornament der Figur im Stoffmuster steht zum Ornament des Hintergrundes. Die Kindergesichter leuchten. „Play with hares“ ( Spiel mit Hasen) 1994 Öl auf Lw. Von Nomida Saukiene 1957, geb. Ihre Bilder sind nicht expressive auch nicht abstrakt. Sie sind realistische , aber nicht sozial realistisch, schon gar nicht dem sozialistischem Realismus zugeneigt. Eher dem traditionellen Kinderbildnis verpflichtet. Pflanzen, Blumen und Kinder sind ihr Thema. Sie sind intim und naiv natürlich. Der Titel „ein Spiel mit Hasen“. Man sieht Natur , aber keine Hasen. Die beiden Kinder machen mit ihren Zeige- und Mittelfinger das V für Victory ( Sieg). (Wie es Churchill meinte und zeigte).
Noch klarer in der expressiven Farbenfroheit ist Vilmates Marcinkevicius. 1969 in Kaunas geb, also Vater und Enkel, auf jeden Fall heutig: der Kopf (head) von 1999. Ein offenes Auge riskierend, voller Angst das furchtbarste im Anblick, fast wie Medusa den Schrecken bannend, aber nicht mehr Körper , nur noch den Kopf in den Händen, darunter im Blauen zwei schwarze Kapseln, Samen für die Zukunft oder Schachteln der Pandora, das Böse abkapselnd…..ein Wahnsinnsbild voller Wahrheit aus Litauen….! Rechts: der Sonnenaufgang mit Selbstmord (The sunset with Suicide) 175 x 210 1998 entstanden.: Eine magische Matrone in Blutrot gemalt wie eine alles überwachende Gallionsfigur am linken Bildrand. Die in roten Trousers abtauchende „suicid-figur“ geht über ins blaue Meer oder den Himmel mit sonnenglühenden Aufgang: schützend und aufnehmend.
Ruta Katlitute, 1944 geb. Sie gehört zu den ausgebildeten Malerinnen, die sich sehr früh und eindeutig für die abstrakte Kunst , die reine Form und Farbe einsetzte. Sie analysiert in ihren Bildern malerischen Ausdruck und setzt auf die Kraft der Farbe. Nichts Erzählerisches oder mythisch –magisch Aufgesetztes ist in ihren Bildern zu finden. Sie ist bekannt für ihre Gemälde in Blau. Diese Farbe ist der Hauptgegenstand ihrer Studien. Sie arbeitet in vielen Malschichten. Die Leinwände erscheinen transparent mit blauen Tönen bedeckt, aber auch die Leinwand durchschimmernd unbedeckt erscheinen lässt. Der Farbauftrag erscheint entmaterialisiert, farblich zerschmolzen ähnlich der Malweise von Ciurlionis , nur hier gibt es keine Grasschlangen und betende Hände. Sie zeichnet auch und stellt Installationen her, die auch das Elementare( Grundanliegen von Malerei) in Form und Linie zart, verschmelzend und offen verarbeiten.
Ähnlich zart in der Linienführung und Farbgebung sind die Arbeiten von Dalia Kasciunaite. 1947 geb. Ihre Seidenkleider, so die Bildtitel, lassen schemenhaft menschliche Wesen in langen Kleidern, liegend schwebend, umgeben von tulpenähnlichen Pflanzen. Abstrakte Elemente in Farbverdichtungen, in Knoten, Energiezentren und ein verwaschene Dahinschmelzen dünner Farbschleier. Eigentlich keine klare Farbe, ein Verhallen mehr, ein Ausatmen in Bläulichem und Gelbem. Die Bilder nähern sich wie bei Cuilionis dem Nichts, der Ästhetik des Verschwindens, der Auflösung. Sie sind Beispiele der „Organischen Abstraktion“ (nach Donald Kuspit).
Handfester als Thema erkennbar: das Selbstporträt von Arvydas Saltens von 1987 und ein Familienbild von 1975 (geboren ist er 1944). Blau Grau dominiert. Der fragende Kopf oder Geist aus der Blumenvase auf weißer Unterlage, die Diagonale teilt das Bild und gibt Dynamik. Rechts: Die gestaffelten Köpfe wie Totenköpfe in Erwartung vor leerem Tisch. Eine Malerei , die am Gegenstand bleibt, aber in graphischer Expression zur Auflösung tendiert.
Bronius Grazys lässt einen Kopf mit geschlossenen Augen als umwickelte Versteinerung erscheinen. Der steinerne Gast hat im blau leuchtenden Umriss: ein Gegenüber, ein Spiegelbild. Beide steigen aus schwarzen Löchern auf. Der Raum wird aus einem aufgeklapptem Ringbuch gebildet, das sehr malerisch – getupft und teils zu Linien ausgezogen-leichthändig gearbeitet ist. Die Leute heißt das Bild , Öl a Lw. ( 1997 –1999 gemalt). Verschnürungen, Seile haben es ihm angetan. In „Inseln“ von 1999 werden die abdriftenden Teile ( (Länder) wie mit Sicherheitsnadeln mühsam zusammengehalten. Das das Ganze auch an Korsett erinnert und eine Menschliche Figur ahnen lässt, darf gedacht werden.
Vitalis ( Vitalijus Cepkauskas) nimmt Gefundenes von Flohmärten, wie alte Uhren, Spielzeug , Puppen Skurriles aus Metall, Leder und Plastik und formt daraus seine Figurengruppen, links ( The speed 1999) Rechts ( Drei Freunde). Die Figuren sind etwa 1 m groß.
Viel Farbenfrohes, unbekümmert naiv erscheinend, aber mit viel Kleinarbeit und Freude zu Monster zusammengesetzt, sind diese Plastiken erschreckend komisch , aber auch unheimlich brutal, aber auch mumienhaft umwickelt oder maskiert. Die Lust am Sammeln des Kleinen und dies zu Großem aufbauen, lässt an den Berg der Kreuze- einem Sammelberg von Kreuzen erinnern. Hier werden die Figuren durch die vielen Räder und Metalldrähte zu kleinen Robotern, oder Zwischenwesen.
Fein Aufgereihtes, Dinge aus dem Alltag, im Alltag nutzend, arbeiten Aleksas Andriuskevicius( geb 59) links „The Saw“ die Säge von 1989-1990) aus Metall und gefärbten Satinstreifen hergestellt, die Objekte wirken wie benutzbare Gürte. Daniel Liskevicius (1970 in Kaunas geboren) hat aus Aluminium Objekte für den Körper hergestellt, dies 1994: eine Tröte, einen ausfransenden Hammer, einen Befeuchter und eine Art Korkenzieher: um 70 cm hoch. Lebensnotwendig zum Ansehen und Aufreihen.
Das war ein Einblick in die Möglichkeiten litauischer Künstler, die heute noch arbeiten, aber ein Teil hat zwischen Vorher und Nachher , einen entscheidenden Schlussstrich und Neuanfang gewagt, das kann ein anderes künstlerische Medium sein, oder eine verstärkte Auseinandersetzung auf aktuelle Fragestellungen hin ohne die künstlerische Eigenart aufzugeben. Dafür zwei Beispiele: Algridas Griskevivius und Petras Mazuras.
Algridas Griskevicius: Links „Die Tricks der Stadt“ von 1997 (150 x 100).Ein renommierter Maler, begeisternder Bühnenbildner und auch als Bildhauer war er bekannt. Seine Malerei brachte eine farbintensive realistische Malerei auf die Leinwand und verband sie mit magisch konstruktiven Aufbauten. Betuliche Uferszenen( Wäsche auf der leine), Straßen staffeln fast romantisierend wie bei Caspar David Friedrich Ebenen hintereinander auf, Garten und Baumlandschaftsgürtel wechseln zu größeren Orten bzw. Städten mit Kirchtürmen, um dann fast wie der Turm zu Babylon als Gerüst,einen Gebäudekomplex mit Wachtürmen in den Roten Himmel zu bauen. Von Oben bläst ein Engel die Schalmei.- Jetzt ist die Fotografie sein Arbeitsmaterial, jedoch weit entfernt von dem Archivfotos eines Sutkus. Griskevicius inszeniert seine Fotos. Es sind Fotografien, die meist in der Natur durchgeführte Aktionen und Inszenierungen des Künstlers dokumentieren. Sie bewegen sich zwischen Land und body art und haben Themen aus christlichen und mythologischem Umkreis zur Grundlage. Allgemein: Mit Hilfe von selbstgebastelten Attributen und Requisiten formt er Körper der Menschen und Tiere zu Metaphern( Bildgedanken) und Symbolen, die von eindeutiger Heiterkeit über Ironie bis zu philosophischer Vielschichtigkeit variieren.
Hier im besonderen: ein Pferd, ein Nutzpferd mit aufgesetzten Flügeln: ein Pegasus, ein geflügeltes Wunderpferd, das Dichterpferd, für Zeus , dem Göttervater, trug es Blitz und Donner. Das Foto wird am 16. Sept.05 in der Gal. Bartelt in Berlin zu sehen sein, also ganz aktuell. Diese Ausstellung aus Litauen hat das Thema Der Mensch und das Tier. Dia: Natürlich ist Sutkus dabei: hier das Thema Kind und Hund, voll Mitgefühl und lyrischer Stimmung. Vor allem werden Arbeiten von Aleksandras Macijauskas gezeigt. Märkte, Landmärkte sind sein bevorzugtes Fotothema. Er hat einen Langzeitstudie auf Landmärkten gemacht. Bei ihm sind Tiere Attribute der Arbeitswelt lebende Gerätschaften, gepflegt und gemocht wurden sie aus ökonomischen und arbeitstechnischen Gründen. Wie gesagt: Landwirtschaft in Litauen: Litauen galt als der Haupternährer des Sowjetreiches. Seine Hasen schweben zwischen Tod und Leben .Seine Fotos werden nicht nur gefeiert, sondern es hagelte immer wieder auch Proteste. Verständlich: sie liefern keinen Zucker über bittere Wahrheiten. Seine Fotos haben einen Nerv getroffen, worauf empfindlich reagiert wird.
Soviel zu dieser aktuellen Fotoausstellung in Berlin.
Ich habe einen weiteren Künstler versprochen, der seinen Arbeitsstil gewechselt hat: Petras Mazuras. Er ist heute ein Bildhauer-Gärtner, davor hat er Figuren aus Bronze und Stein hergestellt, links die „ Schwimmende“ eine Art Figur in Plexiglas (1996-1997) 6 x 12 x 31 cm. Was macht er? Er hat für seine neuen Arbeiten Bewässerungssysteme entwickelt, die es ermöglichen in Vilnius exotische Pflanzen zu züchten. Die aus Stein gehauenen Gefäße werden dem Charakter und dem Wachstum einer Pflanze angepasst. Die Pflanzen werden in Museen gezeigt. Baumskulpturen als schwimmende Schiffe. Bäume die von oben wachsen, gibt es bei ihm. Er geht nicht auf den Supermarkt , um Orangen und Annans zu kaufen, sondern züchtet die Früchte selbst. Er will der Sehnsucht nach fernen Früchten ihren alten Zauber zurückgeben. Die Arbeit heißt Citrus von 2004.
Dia: So sieht er aus. Er kommt aus ländlicher Gegend (near Radviliskis 1949 geb.) und möchte in seinen Arbeiten konzeptuell zu seiner Herkunft zurückgehen.
Links: Karolis Jankus ( geb. 1974 in Vilnius). Er schreibt seine Drehbücher selbst. Sein Thema: Sex and money. Seine Filme werden auf Filmfestivals und in Kunstausstellungen gezeigt. Mit seiner Ehefrau Deima Kelias schreibt er auch Bücher. Das gemeinsame Erstlingswerk hat den Titel: „Im wilden Litauen. Blinda“.
In seinen Arbeiten zeigt er mit hintergründigem Humor die Missstände postkommunistischer Gesellschaften, die sich aber auch antiwestlicher Mittel bedienen. Er zitiert spielerisch aus der Kinogeschichte, auch der westlichen, was das mehrdeutige seiner Filme unterstreicht. Seine finanziellen Mittel holt er aus seiner Arbeit an Reklamefilmen. Der improvisierte Charakter seiner Filme (wenige Darsteller, einfache Ausstattung) trägt dazu bei, dass diese eine gewisse Leichtigkeit und Abstand zum Thema bewahren, zugleich bitterböse und witzig daherkommen.
Links: Dieser Edelganove mit Kreuz, Revolver, Gel-Haaren und „black ist schön“ spielt in „Dead body Asks for Help“ ein Kurzfilm von 3.08 min. „Ein Toter Körper bittet um Hilfe“. Dieser Typ hält auf der Autobahn Buffalo-Detroit an, um auf eine Leiche zu schießen, die ihn um Hilfe bittet.
Rechts: ein Filmstill aus den Foxy Sisters 2003 (14 min). Zwei Schwestern kommen in die Stadt und sehnen sich nach Luxus, sie geraten aus der Bahn, betteln, versuchen als Prostituierte zu Geld zu kommen, begehen schließlich einen sinnlosen Mord.
Links: No Money, no sex.( 8.40 min, 2003) zwei sexgierige Jugendliche überfallen zwei Verbrecher, aber anstatt Geld zu erbeuten, erhalten sie blutige Leichenteile in Säcken.
Rechts: Poor Boy (3 min 2003). Ein Vater beobachtet, wie sein minderjähriger Sohn Essen aus dem Haus schmuggelt, um es einem Landstreicher zu geben, und gerät darüber in Wut.
Fazit: Die Grenze zwischen Tätern und Opfern verwischt. Erzählt wird von organisierten Kriminellen, Prostitution, die in die Welt der neuen Reichen und Durchschnittsbürger eindringen. Die Szenen sind eindringlich, klar mit einem Hang zum Morbiden, aber auch komisch und kurz. Schwarzer Humor, den man sich unter anderen bei den Nordischen Filmtagen einüben kann. Wo schallend gelacht wird, aber manch einem doch das Lachen im Halse stecken bleibt.
Gintaras Makarevcius (1965 in Trakai geb.). Er studierte Malerei an der Kunstakademie Vilnius) „Vaskici“ ein Kinderspiel. Es geht um das Zählen von Gewehren. Das was die Erwachsenen treiben, hier als Kinderspiel, aber doch kein Spiel. Der Film zeigt wie die Kinder durch Gewehre und Konventionen gelenkt werden. Nicht die Kinder bestimmen ihr Spiel, sie werden manipuliert.
Große schwarz-weiß Fotos „ Flags and mothers, left in the Forest“ 2 Fotografien je 26o x 196, 2003. Von S & P Stanikas. Der Galerist und Kunstkritiker Christian Caujolle aus Paris schreibt zu dieser durch Wind und Wetter zerfetzten Europafahne und der im Wald ausgesetzten Mutter:“ Sie verwenden den Topos der Gewalt, gerade um diese von ihren Spektakulären Qualitäten zu trennen und ihr Fundament in Frage zu stellen….Der Hauptgrund , dass ich diese Arbeiten mag, liegt darin, dass sie niemandem etwas schulden. Sie entwickeln sich aus einer inneren Notwendigkeit…eine radikale Infragestellung der gegenwärtigen menschlichen Natur, zum Ausdruck gebracht mit einem unglaublich starkem Gefühl für Proportion, Ausmaß, Rätsel und Geheimnis.“
Mehr für Auto-Enthusiasten ist die Arbeit Roll over Museum. Langgehegte Wünsche erfüllen sich für Autobastler und -kenner. Dokumentiert wird im Video jede Veränderung und Entwicklung des Autos. Große Fotos schmücken die Museumswände, zur Eröffnung der Berliner Ausstellung fuhr auch so ein Prachtwagen in die Ausstellung ein. Das ist Arturas Raila (1962 geb.). Keinen Spaß machen, aber schockieren, das tun seine zwei Filme: Links 1999 dokumentierte er die österreichischen Parlamentswahlen, dann drehte er einen weiteren Film in Litauen und ließ das Material der ersten Films( der aus Österreich vorwiegend in Linz aufgenommen) kommentieren. Die Kommentare sind nicht redigiert und laufen in weiß und in deutsch über diesen Film. Wenn der Linz-Film läuft, steht der andere mit seinem Kommentar still.
Nehmen wir den Kommentar „Der hat auch was mit Kunst zu tun“ mit in die Schlussbetrachtung.