Der Adlersaal

Der Adler – Die Adler – Der Adlersaal im Kanzlei­gebäude zu Lübeck

Anmerkungen zu einem Vogel

Ein Beitrag von Roswitha Siewert – hier auszugsweise wiedergegeben

veröffentlicht in: Der Wagen2012 – Seiten 7 – 40

Verlag: Hanseatisches Verlagskontor Lübeck – 2012

Umschlagmotiv: Heinz-Joachim Draeger, Lübeck, 2010

Wo beginnt man heute mit einem Thema, das so harmlos daher kommt, sich förmlich einschleicht als ein überkrönendes Decken-Gewölbe-Nebenbei, zum zufälligen Frei­zeitbeiwerk wird und sich dann zum Zeugen eines traumatischen Horrorszenariums der vergangenen Geschichte zu entpuppen scheint? Subjektive und kollektive Erinne­rungen und Verdrängungen entwickeln sich bei näherer Betrachtung und Tatsachen­forschung. Trotz allem macht die Beschäf­tigung mit den geflügelten Gästen in der Höhe auch Spaß. – Ein vielschichtiges The­ma! Ein Umgehen mit augenscheinlichen Widersprüchen, stoppenden Sackgassen und erhellenden Lösungen.

Zunächst ein paar einführende Tatsachen zum Thema, dann die Beschreibung des zu betrachtenden Gegenstandes und anschlie­ßend die Einbettung in einen Hauptdrei­klang von Entstehung, Geschichte und Le­benskultur. Aber nicht genug mit einem har­monischen Dreierakkord. Eine vierte Ebene schwingt mit, fast wie eine kritische Instanz, aber auch als strahlendes Sahnehäubchen der Erkenntnis: Es ist die zeichnerische Ka­rikatur. 1921 erkennt der „Lübsche Adler“ sein Doppelgesicht. In einer humoristischen Bildergeschichte (Alfred Mahlau) wird er zum Stadtwappen geboren. Dann ist da die künstlerische Aneignung, die tatsächliche Umsetzung als Malerei in den Gewölbehimmel des Raumes, der sogenannte Adler­saal. Das Gewölbe mit seinen sechs Jochen wurde 1939 / 40 mit den namengebenden Adlern ausgemalt. (Entwurf: Asmus Jessen, malerische Ausführung: Peter Thienhaus).

Jahreszahlen, die stutzig machen. 1934 und 1937 hatte Lübeck in Etappen seine Eigen­staatlichkeit verloren und wurde in den Neuaufbau des Reiches integriert, dies in politisch brisanter Zeit. In der Gegenwart, 2010, entstehen bildkünstlerische Reaktio­nen feiner Ironie. Sie legen Probleme bloß, dies mit Humor des Alltäglichen und im Wissen um das historische Geschehen in diesem, „Ach so“, schwierigen Vaterland (Heinz-Joachim Draeger). So werden uns Künstlernamen wie Alfred Mahlau, Asmus Jessen, Peter Thienhaus und Heinz-Joachim Draeger beschäftigen.

Einführende Tatsachen

Ort ist die Stadt Lübeck, spezielle Archi­tektur das Kanzleigebäude gegenüber dem Schrangen, in mittelalterlicher Mitte gele­gen, in unmittelbarer Nähe der Marienkirche, Das heutige Ambiente ist Teil eines flo­rierenden Caféhauses. In großer Geste lädt schon die Eingangsituation ein: Auch wenn der Klinkerfußboden bessere Zeiten gese­hen hat (Terrakotta-Fußboden von Asmus Jessen, 1928), wendet der glitzernde Kris­talllüster den Blick des Eintretenden von der Höhe auf die mit rotem Teppich ausgelegte Treppe, die nach Plänen von Friedrich Wilhelm Virck, Oberbaurat der Stadt, ent­stand. Handlauf und Proportionen der nach oben führenden Treppenstufen geleiten – fast hoheitsvoll – den Besucher. Kaffeeduft, die feine Süße der Kuchen und Torten, dazu die anheimelnd klingenden Strauß-Walzer aus fernen Räumen, speisen bereits die Er­wartungen auf ein Wiener Caféhaus. Eine alte europäische Tradition, die aus Kaisers Zeiten zu stammen scheint und ganz selbst­verständlich sich ans Heute gewöhnt. Die Galerie im Obergeschoss erreicht, sieht sich der auf Genuss und Wohlfühlen ausgerich­tete Besucher zur Entscheidung veranlasst. Entweder nach rechts: Hier erschließt sich ein Defilee, vorbei an Kuchentheken, auch mit Sitzmöglichkeiten, hin zur gemütlichen Literaturstube mit Blick auf das Mann-Zen­trum in der Mengstraße und über die Breite Straße hinaus die Sicht auf die Jakobikir­che.- Oder nach links, unser heutiges Inter­esse, in den sog. Adlersaal. Folgen wir dem Slogan des Hauses: „Genuss und Stil unter einem Dach.“ Vom Dach ist die Innendecke unser Thema, die „genüsslich“ zu betrach­ten wäre, in verschiedene Stile einordnend, wenn’s möglich ist, oder dem feinen Stil lübscher Art ein ästhetisches Organ wird.

Nur diese überhobenen Bedürfnisse wird der Besucher, Gast oder Tourist nicht un­bedingt haben, vielleicht später entwickeln oder auch verweigern. Er betritt einen wohl­proportionierten Raum mit zwei Fenster­fronten an den Längsseiten: Auf der einen Seite mit Blick auf den Rhythmus in Stein der Backsteinfassade des Chores der Marienkirche und auf der anderen Seite der strö­mende Alltag oder die sonntägliche Ruhe der Breiten Straße mit dem Schrangen, einer platzartigen Ausweitung. Dann folgt das Kaufhaus Karstadt, in der Ferne St. Jakobi. Alles in vielgestaltiger Stadtarchitektur der Jahrhunderte. Durch die getönte Glastrans­parenz der Fenster bekommt die Außenwelt einen distanzierten Schein.

Innen erweist sich der zweischiffige Raum1 mit sechs kreuzgratgewölbten Jo­chen, die in der Mitte von zwei achteckigen Granitpfeilern getragen werden, von histo­risch-gediegener Prächtigkeit. Orientalisch dekorativ umhüllt sind die Kapitelle der Pfeiler. Mit farbigen Strahlern kann akzentu­iert werden. Den bauhistorisch Neugierigen sei verraten, dass sie aus Sandstein und von einem Kranz stilisierter Blätter umgeben sind, darüber eine Deckplatte mit Wulstpro­fil, wie es üblich war. Umlaufende Sitzbänke sind von Sockelelementen unterbrochen und rhythmisieren sich entsprechend den heruntergezogenen Graten. Sie laden den Gast neben den hochlehnigen roten Stühlen zum Ausruhen ein. Eisenverstrebungen wer­den heute an den Eckpunkten mit Tüchern drapiert und kommen den Tischdecken und dem Caféhaus-Accessoire entgegen. Der Blumenschmuck lädt mit ein, die Musik im Hintergrund rundet die Atmosphäre ab. Hat der Gast seinen Platz gefunden, sich in Ruhe installiert, seine Wünsche bestellt, dann geht der Blick, wenn nicht Wichtiges zu bespre­chen ist, vielleicht nach oben zum Gewöl­behimmel der Adler. Ungläubig zunächst, registriert er oberflächlich – wenn überhaupt – jeweils zwei Seiten mit drei Gewölbejochen und – wenn sein Interesse geweckt ist – in den vier Gewölbekappen je einen Adler ­ oder was? Vierundzwanzig Adler müssten sich an der Decke eigentlich tummeln. Aber es gibt auch einen Löwen, der von Heinrich dem Löwen erzählt, dass er Lübeck an dieser Stelle 1158 gegründet hätte. Das Siegel der Stadt Lübeck von 1255 ist mit Boot und Be­satzung auszumachen, dazu der thronende Kaiser im Sekret Siegel von 1252 sowie der Doppeladler (Joch VI). Erstes Sortieren und Annäherung: Je zwei Adler sind sich in den Kappen zugewandt. Welche Bedeutung ha­ben die Zahlen, sind es historische Daten, die den Wappen bzw. Adleremblemen zugeord­net sind? Hat es uns zu interessieren? Oder ist alles nur Dekor? Eine nuancierte Grau in Grau Malerei: Üben sich da bereits Gerhard Richters, in auf ein Minimum reduzierte Grau-Farbskalen in gefiederten Ausführungen? Nähern wir uns dem Eingangsgewölbe (Joch I). Man liest „Früh-Germanisch“, aber auch Jahreszahlen. Sie irritieren, erfreuen Historiker. Heraldiker sind gefragt. Kunst­historiker kommen ins Schleudern. Ist der umwirbelnde Schleudergang Teil zur heuti­gen Deutung? Wie zeigt sich das Wappentier Adler, das sich in der deutschen Geschichte bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen lässt? Im Orient bis zu den Assyrern. Be­denkt es der schlemmende Cafehausgast, unter einem Staatssymbol zu sitzen, das der Selbstdarstellung des Staates dient und ihm, dem Bürger, als Identifizierung mit seinem Staat angeboten wird? Diese Situation hier ist nicht ernst und staatspolitisch fei­erlich, obwohl der Adler Zeichen für Krieg und für Frieden ist. Sie ist mehr indifferent und umrahmt als farbliche Ausmalung das Wohlbefinden beim Cafegenuss. Kein aktueller Bundesadler ist zu entdecken, dafür sind Teile seiner Ahnenreihe, engelsgleich, in der Höhe aufgefiedert. Der Wandel, die Verwandlung dieser Vorfahren liefert Argu­mente für die unterschiedlichen Nutzungen im geschichtlichen Ablauf. Aber die kuriose Kombination von heute gibt auch die Frei­heit, die Sicht auf die historischen Adler als lebensgroße Tierfiguren neu zu erhellen und zu formulieren. Dies unter dem Aspekt „Eu­ropa wird wilder. Die Rückkehr der großen Tiere“ (GEO 9/2011). Selbst die Lübeck Wer­bung an den Bushaltestellen und für neue Uhren in der Stadt mit dem Slogan „Für Städte. Für Menschen. Für Lübeck.“ lässt Designadler ins Blaue aufsteigen (Sommer 2012). – Atmet man die Fragen über Fragen aus, schiebt den niederdrückenden Ballast der Adlergeschichten beiseite, dann kommt Spaß mit den symbolträchtigen Tierpersön­lichkeiten auf. Zudem kann sich der Gast von den über 30 köstlichen Kaffee- und Teespezialitäten verführen lassen.

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Adler

Schluss

Nach 1937 musste sich Lübeck neu erfinden. Die Gleichschaltungsmaßnahmen der Nazi­herrschaft betrafen auch die Stadt Lübeck in ihrem Selbstverständnis, über Jahrhun­derte bewährte Identifikationen wie Hanse und Reichsfreiheit fielen weg. Selbst die hei­matliche Stadtsilhouette lag nach dem Vergeltungsschlag der Briten für Coventry in Trümmern. 75 Jahre sind ins Land gezogen, die Adler in der freien Wildbahn starben fast aus, aber heute kreisen sie wieder ihre Him­melsrunden in Schleswig-Holstein. Bürger­wille, Stifterbereitschaft und das Land bau­ten die Stadt allmählich wieder auf. So gut und soweit, dass 1987 die Altstadt Lübecks in die Unescoliste des Weltkulturerbes der Menschheit aufgenommen wurde.

Mit den Adlern an der Decke des Kanzleigebäudes sehen wir auf eine Form moderner Historienmalerei, die durch die Geschichte ihrer Entstehung (1939 / 40), der Zeit der Übermalung (etwa 1945) und in ihrer heutigen Funktion als kunsthistorische Überdeckung in einem Wiener Caféhaus wirkt. Damit einer Wohlfühlgesellschaft europäischen Ausmaßes Argumente geliefert und dem aktuellen „Party-Patriotismus“, der aktuellen medialen Wortkombination und gesellschaftlichen Praxis gerecht wird. Der Reichsadler in fast 24 historischen In­szenierungen hat seinen Horst in jeweils ei­ner Jochkappe des Deckengewölbes, tanzt im Quartett in jedem Joch und formiert sich zu einem Reigen im Dreier-Schritt des gotischen Kreuzgratgewölbes. Eine Erin­nerungskultur mit dem Adlermotiv, wobei die Gleichzeitigkeit der Vögel als heutiges Deckengewölbe rückverweist auf frühere gewichtige historische Ereignisse. Sie sind Bilder eines kollektiven Gedächtnisses. Sie sind Zeugen einer regionalen Malerei mit europäischen Inhalten, einer Schule von Lübeck, die in die Welt wirkt. Die Zeit ist ein Ablauf von Geschichten und Geschichte, aber sie bleibt ein leerer Rahmen, wenn sie nicht mit Bildern gefüllt wird. Die Zeitpunk­te, d. h. die Jahreszahlen z. B. 1158, 1370 oder 1937 usw. sind Geschichtsdaten, aber an der Decke zeigt sich die Geschichte als bunt be­malte, harmlose Adlermenagerie. Nur im Rückkoppeln werden verdeckte Tatsachen bzw. Bilder sichtbar. Die Jahreszahlen geben Interpretationsrichtungen an. Sie kokettie­ren mit der Historie. Wie aber verfährt die malerische Oberfläche mit der Geschichte? Sie macht sie anonym, sie wird abgedeckt, auf ein Symbol letztendlich reduziert: auf den besonderen Vogel, den attraktiv gemal­ten Adler. Wenn eine entscheidende Realisierungsmaschine, das technische Hilfsmit­tel, der Projektionsapparat mit Dias war, wobei das Motiv des Adlers von Münzen, Siegeln bzw. Zeichnungen an die Decke projiziert wurde, dann werden Schichten bis zum Grund der Geschichte bzw. Bau­geschichte von 1614 beleuchtet. Das Motiv wird ausgewählt und das Kunst-Auge ver­wandelt es in Malerei. Die Malerei selbst erzeugt die Indifferenz der Adlerbilder ge­genüber ihren Inhalten. Steht der Betrachter vor dem Käfig oder ist er im Käfig, im Raum selbst gefangen? Keine anbetungswürdigen Ikonen, sondern Adlerbilder, die in den All­tag hineinwirken. Sie können Licht in un­ser Erinnerungsvermögen bringen. Sie sind Stachel gegen das Vergessen, sie werden menschlich nah. Das Verschleiern mit Ma­lerei, zeichnerischer Malerei oder Akzentu­ieren mit Gold und Rot im Umriss nimmt Geschichte die Wunden für Augenblicke. Diese Adler sind eine Art schwebende Sym­biose von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und nicht einzufangen.

Abbildung: Lübeck, Königin der Hanse (Original bei R. Siewert