Marientidenaltar

Marientidenaltar in St. Marien

©Titelbild: Verlag Schöning & Co.

St.-Marien-Jahrbuch 1987 – Beitrag von Roswitha Siewert

»Wisse, daß es drei Gründe für die Institution von Bildern in den Kirchen gibt. Erstens zur Unterweisung der einfachen Menschen, weil sie durch Bilder belehrt werden, als wären es Bücher. Zweitens, um das Geheimnis der Inkarna­tion zum Beispiel der Heiligen dadurch stärker auf unser Gedächtnis wirken zu lassen, daß wir sie täglich vor Augen haben. Drittens, um Empfindungen der Frömmigkeit hervorzurufen, die durch Gesehenes leichter wach werden als durch Gehörtes.«1)

»Festzustellen bleibt jedoch, daß das theologisch Lehrhafte im Bild zum menschlich Ergreifenden, also einer dem Gläubigen unmittelbar gegenwärtigen Aussage, gewendet wurde.«2)

Marienverehrung in St. Marien

Würden Sie, so Sie hätten, Ihren scharlachroten Mantel einer Marienfigur schenken, um Maria an bestimmten Festveranstaltungen geschmückt zu sehen und dadurch die Gewähr zu haben, in den Himmel zu kommen? Auch wenn scharlachrote Mäntel im Augenblick wieder »modisch in« sind, findet diese Art der Marienfeste nicht mehr statt. Dies war im 14. Jahrhundert und vor allem seit der Mitte des 15. Jahrhunderts anders in St. Marien. Einen Höhepunkt der Marienverehrung3) bildete die Stiftung des Antwerpener Altars vom Lübecker Kaufmann Johann Bone, der aus Geldern/Niederlande stammte, im Jahre 1522 für die Marientidenkapelle der Marienkirche.

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts hatte sich der Marienkult auf diese Kapelle, es ist die mittlere des Chorumgangs im Osten, konzentriert. Sie hob sich auch architektonisch vom Umgang ab. Zwischen Kapellenabschluß und Chorumgang war zusätzlich ein schmales Joch hinzugefügt worden. 1444 wurde die Kapelle das erste Mal in der Literatur erwähnt.4) Von der Ausstattung her war sie nicht von Anfang an als »Marienkapelle« gedacht. Auf dem Altar war Maria unter anderen Heiligen zwar vorhanden, auch gab es eine silberne Maria und ein Annenbild. Als herausragender und abgeschlossener Raum war die Kapelle jedoch für die Marienfeiern – für die Marientiden – geplant und sollte entsprechend ausgestattet werden. 1462 hatten sich 40 Gemeindeglieder zusammengefunden und 4500 Mark gesammelt.

Das »Ave Maria« gehörte mit dem »Vaterunser« zum zentralen liturgischen Ereignis, das das tägliche christliche Leben bestimmte. Für die Durchführung der Lobgesänge konnten 12 Personen (2 Singemeister, 4 Priester, 6 Sängerkna­ben) beschäftigt werden. Schon am frühen Morgen begann man mit der Mette und den Gesängen auf Maria, es folgten die Lobpreisungen zu den einzelnen Stunden, während des Hauptgottesdienstes wurde kurz unterbrochen; nachmit­tags und abends fanden weitere Marientiden statt. Die Marienverehrung fand sehr viel Zuneigung, und die Kapelle übte eine große Anziehungskraft auf die Gemeinde aus. Sie wurde mit Geschenken überhäuft.5) Es wird Altargerät, es werden Vorhänge, Altartücher, Meßgewänder gestiftet. Feines schwarzes, englisches Tuch war vorhanden, um die Kapelle für Totenmessen auszustatten. 1497 gründete sich eine Bruderschaft Mariä Verkündigung. Neben der Ausklei­dung mit schwarzem Tuch, wurde an bestimmten Festtagen der Fußboden mit frischem Gras bestreut (»Denn >alles Fleisch ist wie Gras< . . . «, Petr. 1, 24).

Der Raum bekam 1521 ein Gestühl. Die Handstützen in Kopfform geben in ihrer Vielfalt einen Eindruck der damaligen Lübecker Gesellschaft: Kaufmann, Ritter, Priester, aber auch Possenreißer und Narr waren nachgebildet. Kostbare Glasfenster schlossen die Marientidenkapelle nach außen mit einer Darstellung der Marienkrönung ab.6)

C. J. Mildes Nachzeichnung des Glasfensters von 1521, das ursprünglich die Marientidenkapelle nach Osten hin abschloß (1942 zerstört) (Foto: Museen der Hansestadt Lübeck)

Auch die übrigen Kirchenräume waren mit Mariendarstellungen geschmückt. Allen voran die aufragende Mariengestalt, die sich im Zentrum des Lettners befand. Sie vereinigt in sich unheimliche und heilbringende Bildgedanken. Aus einem gespaltenen Gesicht der Sonne kommt Maria mit dem Christuskind hervorgetreten. Sie trägt die Krone der Himmelskönigin. Ihr Haupt ist von Sonnenstrahlen umgeben, ihre Gewandfalten stauen sich auf der Mondsichel. Sie ist Opfer des Kirchenbrandes von 1942 geworden. Jedoch konnte die kleine Mariengestalt aus der Verkündigungsgruppe des Lettners wieder restauriert werden. Sie steht neben weiteren Figuren im Chor und kündet vom einstigen Marienglanz. Zentral im Chor aufgestellt ist heute der Swarte-Altar von 1495, das Mittelbild zeigt Maria mit dem Kind.

Am Westportal stand eine Marienstatue zur Begrüßung, ein Taufstein trug die Inschrift »Maria« – die Aufzählung ließe sich fortführen.7) Der Schutzpatronin der Kirche entsprechend könnte man getrost von üppiger Marienfülle in dieser Kirche sprechen. In Andachten, die mit vielen jubelnden Gesängen ausge­schmückt waren, wurden ihre Wesenszüge und ihre Taten in Wort, Melodie und Bild gelobt und gefeiert.

Herkunft, Künstler, Aufstellung

Dieser Altar ist ein qualitätsvoller, jedoch serienmäßig in Antwerpen herge­stellter Exportartikel. Er wird »Antwerpener Altar« oder »Altar des Meisters von 1518« genannt. Die Jahreszahl 1518 steht oberhalb der Predella. Er ist ein Altarschrein, eine Altartafel mit drei Wandlungen (M. Hasse, 1983, S. 146). Er wird auch formal als Doppeltriptychon mit Predella bezeichnet (Hirsch [1906], S. 235). Er ist 2,54 m breit und 2,86 m über der Predella hoch. Zwei kleine Wappenschilder weisen mit dem Wappen eines »Armes mit zwei Bohnenstau­den« auf den Stifter Johann Bone.

Das Stiftungsbuch der Marientidenkapelle berichtet BI. 25:

»Anno Domini 1522 passche ghaff Johann Boenne de nye taeffele up dat altaer in Unßer Leven Vrouwen capellen unde kostede tho ßettende viiff mark unde 3 ½ schillinck. God sy syn ewighe loen.«8)

Auf dem Gemälde »Vermählung Annas mit Joachim« sind Monogramme gefunden worden. Sie werden mit R. G. und P. G. angegeben.9) In der Literatur (nach F. Hirsch [1906]) werden von Fr. Schlie für das Schnitzwerk der Name Jan Borman und für die Gemälde Bernaert van Orley genannt. Dagegen erklären sich jedoch Kunstwissenschaftler wie A. Goldschmidt (Lüb. Malerei und Plastik, S. 23). Der Name »Meister von 1518« ist ein Notname. Wir können uns aber eine Vorstellung vom Äußeren des »Meisters« machen: Auf dem bereits erwähnten Vermählungsbild ist auf der linken Bildhälfte im Hinter­grund ein blondgelockter Jünglingskopf mit roter Kopfbedeckung zu entdec­ken: ein Selbstporträt des Malers. Die Tatsache, daß es sich um einen Altar aus Antwerpen handelt, läßt sich noch durch die vielen eingeschnitzten Hände unterstützen. Sie sind das Signum der Stadt Antwerpen (gut zu erkennen: Schnitzseite »Darbringung im Tempel« auf dem Fußboden).

1790 ist der Altar von seiner ursprünglichen Aufstellung in der Marientiden­kapelle (auch Sänger- bzw. Beichtkapelle genannt) entfernt und an verschiede­nen Stellen wieder errichtet worden. Zunächst war er in der Greveradenkapelle (Westseite der Kirche) aufgebaut worden. Nach Wiederherstellung der Ge­mälde (1846) durch C. J. Milde wurde er an der Nordwand der Bergenfahrer­kapelle auf einem gemauerten, mit einer Marmorplatte belegten Altartisch aufgestellt. Ende des 19. Jahrhunderts (1873) wurde er an die Ostseite der Briefkapelle versetzt. (Die Briefkapelle war als Marienkapelle errichtet wor­den. Sie hieß aber seit 1363 in allen mittelalterlichen Urkunden und auch noch im 16. Jahrhundert Annakapelle. Anna, die Mutter Marias, galt als »Modehei­lige« im 15. Jahrhundert, offensichtlich wurde sie in der [heutigen] Briefkapelle damals verehrt. Auch diese Kapelle soll einer wahren Schatztruhe geglichen haben. »Viele Frauen vermachten testamentarisch ihren Schmuck und ihre kostbarste Kleidung der Madonna ihrer Kirche, die an Feiertagen prächtig geschmückt gleichsam lebendig in der Gemeinde stand – die erhabene Him­melskönigin ausgestattet mit menschlichem Zierrat wie eine Bürgersfrau.«10) Die Verehrung der heiligen Anna galt als Annex der Marienverehrung, so daß die Aufstellung des Marienaltars in der Briefkapelle [früher Annakapelle] als eine Heimkehr in die »Familie« zu sehen ist.) 1904 wurden die Gemälde erneut gereinigt und gefirnißt von Job. Nöhring. Hier überstand der Altar den Brand von 1942. Nach langer Wanderung durch die Kapellen der Kirche ist er nach der Restaurierung wieder an seinem ursprünglichen Ort in der Marientiden­kapelle aufgestellt worden.

Textverweise:

1) Johannes von Genua im »Catholicon«, 13. Jahrhundert, zit. nach Baxandall, Michael, Die Wirklichkeit der Bilder, Frankfurt 1977, S. 55.

2) R. Grosshans, Niederländische Malerei, Hugo van der Goes, Berlin, Staatl. Mus. Preuß. Kulturbesitz, 1976.

3) W.-D. Hauschild, Kirchengeschichte Lübecks, Lübeck 1981, S. 136 ff.

4) M. Hasse, Die Marienkirche zu Lübeck, München/Berlin, 1983, S. 141 ff.5) vgl. M. Hasse (1983), S.142ff.

5) vgl. M. Hasse (1983), S.142ff.

6) Abb.: M. Hasse, S. 147, und F. Hirsch, G. Schaumann und F. Bruhns, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Freien und Hansestadt Lübeck, Lübeck 1906, S. 176-177 (1839 sind sie von der Marientidenkapelle entfernt worden, seit 1872 waren sie Hauptbe­standteil der Fenster über dem Westportal). Glasmaler: Dirk Vellert aus Antwerpen. 1942 zerstört.

7) M. Hasse (1983), S. 141 ff.

8) F. Hirsch … (1906), S. 225

9) M. Hasse (1983), S. 148

10) W.-D. Hauschild, Kirchengeschichte, 1981, S. 137 ff.