Genoveva und Medea

GENOVEVA UND MEDEA IM PUPPENSPIEL

Sonderdruck aus DER WAGEN – EIN LÜBECKISCHES JAHRBUCH – 1988

Roswitha Siewert

Dem Puppenspieler Lutz Werner von Bille danke ich für die Einsicht in die unveröffent­lichte Abschrift des Puppenspiels „Jason und Medea“. Diese Fassung ist von der Puppenspielerfamilie Bille aufgeführt worden. Das Stück ist seit 1796 im Besitz der Familie und nach mündlicher Überlieferung gespielt worden. – Das Ritterschauspiel für Puppentheater „Genoveva, die Schöne Pfalzgräfin am Rhein“ geht auf eine neuere obersächsische Handschrift zurück, die auf Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­derts zu datieren ist. Sie war Vorlage für das Genoveva-Spiel der Familie Bille.

So verschieden Medea und Genoveva sind, so verschieden sie handeln, so unterschiedlich ist ihr Ende. Opfer sind sie beide. Sie waren die vielgeschmähten und viel beweinten Heldinnen auf der Puppenbühne im 19. Jahrhundert. Sie waren Ausdruck, ja Verstärker innerer Passionen und schmerzlicher Aggressionen des Publikums. Können die seelischen Leiden, die kleinen Wehwehchen der hölzernen Puppen uns heute noch beschäftigen oder gar unsere Sinne verwirren?

Schauen wir den beiden Schauspielerinnen genau ins hölzerne, bemalte Gesicht! Wie kostümieren sie sich für diese Rollen?

Medea trägt ein gelbes Samtkleid, das reich mit Pailletten und silbernen Bändern verziert ist. Ein modisches Ausgehkleid der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Es ist tailliert, jedoch durch Längsapplikationen streckt es die Figur. Strahlenförmig, gleich Sonnenstrah­len, ist eine doppelte Reihe des Musters auf den Samtgrund aufgenäht. Ein bisschen spanisch, an Carmen erinnernd, wirkt sie durch den schwarzen Spitzenschleier, den sie als Kopfbedeckung trägt. Auch die doppelte Rüschenreihe am Ärmel bestärkt diesen Eindruck. Sie ist Ausländerin, eine Fremde, ein Gast im deutschen Puppenspielland. Ihr Gesicht ist von schwarzen Wollfäden umspielt. Ein Mittelscheitel gibt Strenge. Dunkelblaue Augen, kleine Pupillen und ein weißer Strich senkrecht geben ihrem Augenausdruck etwas Katzenhaft-Unberechenbares. Ein dichter Kranz aus Haaren umrandet das Augenlid. (Nägel sind hier ins Holz geschlagen.) Sie hat einen schmalen kirschroten Mund – sanft lächelnd – selbstbewusst. Volle rote Wangen geben ihr ein rosiges vitales Wesen. Stolz hebt sie die breiten Schultern.

Genoveva trägt ein schwarzes Reisekostüm aus Samt; wiederum sind Silberborten in doppelter Reihung an der Jacke, im Zickzack auf dem Rock. Ein weißes gehäkeltes Spitzenkrägchen ragt am Hals heraus. Sie scheint unterwegs zu sein, kommt gerade an oder geht weg. Im Kontrast zum hochgeschlossenen Kostüm trägt sie langes offenes Naturhaar. Von einem Mittelscheitel aus umfließt es die Gestalt. Sie hat ein herbes eckiges Gesicht. Ihre Augen wirken groß, vor allem wird dies durch die großen Pupillen bewirkt, die von einer nur schmalen hellblauen Iris umgeben sind. Die Starrheit des Blickes löst sich, wenn man näher herangeht. Der Mund ist bleichrot, aber entschlossen. Helle, dünn aufgetragene Gesichts­farbe lässt das Material Holz (Lindenholz) ahnen. Eine rote Farblinie um den Mund und an den eingefallenen Wangen geben ihr den Zug der Enthaltsamkeit, des Ernstes.

Zwei Kritiken über sein Puppentheater hatten ihn sehr bewegt, erzählt Lutz Werner von Bille, Nachfahre der Puppenspielerfamilie Bille:

  • „ … aus ihrer Bühne kommt Niveau!“
  • „ … warum spielen sie mit alten Klamotten?“

Hatten die alten Klamotten Niveau? Verfolgen wir das Handeln der beiden großen Aktricen in ihrem Spiel!

Genoveva, die schöne Pfalzgräfin am Rhein

(Ein Ritterschauspiel in 6 Akten und einem Nachspiel)
Nach einer alten Puppenspielhandschrift, herausgegeben von A. Lehmann (1929)

Vorbemerkung: Die altmodischen Wendungen, das bombastische Gerede, aber auch das heute noch in seiner Schlichtheit tief ergreifende Gefühl, das aus manchen Szenen spricht, mögen auf Spieler und Publikum wirken.

Genoveva ist als Puppenspiel für Erwachsene gedacht, „ … und da eigentlich nur für verheirate Leut‘, weil die‘ s erst richtig verstehen.“ Aber auch der Junge Paul in Theodor Storms Novelle Pole Poppenspäler war nach einer „Genoveva“-Aufführung des Puppen­spielers Tendler „ … noch ganz verwirrt zu Sinne.“ In der Algebrastunde schrieb er einmal „ … x+Genoveva“ auf die Tafel.

Die Kurzfassung des Stückes:

Der erste Akt spielt in einem Saal der Burg zu Trier. Genoveva und Siegfried erscheinen als Jungvermählte. Die Sarazenen sind in Frankreich eingefallen. Siegfried muss seinem König helfen. Genoveva bittet ihn nach so kurzer Vermählungsfeier doch noch zu bleiben. „Feige“ will Siegfried vor seinem Herrn nicht erscheinen. Entschlossen sagt Genoveva: „So lass mich selbst ein Schwert an meine Seite gürten, dass ich an deiner Seite mit dir fechten und sterben kann.“ Siegfried erinnert sie an ihre Pflichten als Landesmutter, und darüber hinaus meint er: „Teures Weib, dazu bist du zu schwach, denn was ist ein Weib ohne Mann? Sei du als Mutter des Landes mit an der Spitze der Regierung zum Wohl der Untertanen.“

Der einzige, der sich über die entstandene Situation freut, ist Golo, der Haushofmeister, ihm wird vom Pfalzgrafen die Regierung und der Schutz Genovevas anvertraut.

Nun hat jemand seinen großen Auftritt, der im Puppenspiel dieser Art nicht fehlen darf: es ist Kasper. Er taumelt volltrunken auf die Bühne. Er erzählt von sechs Flaschen Wein, die er gestiebitzt, wohl auch ausgetrunken hat und von Prügeln, die er ohne seine Einwilligung hat einstecken müssen. Kasper: „ … betrunken? Das macht, – ich habe zweierlei getrunken. Nun zieht mich der eine rechts, der andere links“. Kasper ist in diesem Stück nicht nur derjenige, der versucht, seine elementaren Bedürfnisse nach Essen, Trinken und Geld zu befriedigen, sondern der auch handfest ins Geschehen eingreift, sofern es sich mit seinen Idealen verbindet. Oft sind diese Szenen auch dazu gedacht, allzu große Rührseligkeit zu stoppen. Gefühlt soll werden, aber nicht gerührt: dafür sorgt die Kasperfigur.

Genoveva schaut Siegfried nach: „Dort flieget sein Federbusch, dort ziehet er hin! Und mit ihm mein Herz, mein Alles“. Sie betet für ihn. Golo nähert sich ihr: „Schöne Gräfin“, und gesteht ihr seine Zuneigung, „ … schon, als ich Euch das erste Mal erblickte, schlug die Liebe eine Flamme in meinem Herzen, verwundete mein Herz – und diese Wunde kann nicht eher wieder geheilt werden, bis Ihr durch Eure Gegenliebe mich beglückt!“

Genoveva: ,,Schänd­licher!“, schlägt ihm ins Gesicht, „Ein Backenstreich soll Euch zuteil werden“.

Golo (hitzig): „ … jetzt sei Krieg zwischen uns! Und nun fürchtet meine Rache!“

Der Koch Dragon, der einen Brief Genovevas zu Siegfried bringen soll, steht Genoveva bei. Golo erstickt ihn. Dragon röchelnd: „Mein Geist wird Dich verfolgen!“

Die Handlung läuft im Schlagabtausch weiter. Golo bezichtigt Genoveva der Buhlerei mit dem „niedrigsten Diener der Burg“, nämlich Dragon. Genoveva beteuert wiederholt ihre Unschuld: ,,O Gott, du kennst mein Innerstes, du weißt, dass ich unschuldig bin, unschuldig leide und dulde“. Jetzt ist Golo der Regierende. Er sperrt sie, bis weitere Befehle von Siegfried kommen, im Turm ein. Kasper hat nun am Ende dieses ersten Aktes die Aufgabe, die Leiche Dragons wegzuschaffen. Dies tut er für in Aussicht gestellte 50 Gulden.

Der zweite Akt zeigt Genoveva unschuldig leidend im Kerker: „Unschuld gefällt sich noch im Kerker“. Golo wird wiederholt abgewiesen. „Ich bleibe meinem Gemahl treu bis in den Tod“, antwortet Genoveva auf Golos Forderungen.

Verwandlung: Die Stadt Straßburg erscheint als Kulisse. Hier lebt die Zauberin Zorcea (die Assoziation an Circe ist nicht zufällig). Golo bittet sie, für Siegfried, der in dieser Stadt Station macht, ein szenisches Spektakel vorzuführen. (Diese Schaunummern waren und sind viel praktizierte Puppenspieltradition.) Die Zauberin soll in einem Szenenbild Genoveva und den Koch Dragon in einer verfänglichen Situation zeigen. Sie vollbringt den Zauber. Siegfried glaubt dem Trugbild. Sein Glaube an Genoveva ist zutiefst erschüttert. Golo setzt dem Ganzen noch die Krone auf: „Eure Gemahlin gebar elf Monate nach Eurer Abwesen­heit einen kleinen Sohn“. Siegfried: „Was? … , einen kleinen Bastard?“ Sein unumstößlicher Befehl: Frau und Kind töten zu lassen. Kasper erscheint: Dies ist auch ihm zu viel. Golo und Zorcea gilt seine Rache. An der Hexe rächt er sich verbal in traditionellen Mustern: alte vermaledeite Hexe, du alte Leutebetrügerin, du alte abgeschabte Möhre, zusammengedörrte Runkelrübe, du alte ausgesaugte Zitrone, du altes Krokodilfutter, Satansfingerhut“.

Es kommt zu einer kräftigen Prügelei zwischen Hexe und Kasper. Ende des Aktes.

Der dritte Akt spielt im Wald. Genoveva soll mit ihrem Kind zusammen hingerichtet werden. (Eine ähnliche Situation, wie sie uns in Schneewittchen vorgeführt wird.) Zwei Leibeigene sollen die Tötung durchführen. Einer der beiden nimmt Partei für Genoveva, zeigt Mitleid und läßt sie am Leben. Sie, Mutter und Kind, sollten jedoch den Wald als Ort der Sicherheit und des Schutzes nicht verlassen. Genoveva dankt und betet für die Errettung. Sie tauft ihr Kind mit eigenen Tränen auf den Namen Schmerzensreich. Ein Engel erscheint und führt sie zu einer Höhle, worin sich eine Hirschkuh befindet, die beide ernähren wird. Der Schutzengel verabschiedet sich mit den Worten: „Ich, Dein Schutzgeist werde stets bei Dir sein. Deine Unschuld wird einst heller glänzen als die Sonne, … Verlass Dich nur auf Gott, den Allmächtigen, denn wer auf Gott baut, hat auf einen Felsen gebaut und wird nicht untergehen“.

Genoveva, erfüllt vom Gottvertrauen: „Ja Herr, Deine Wege sind zwar dunkel, aber wunderbar und gut“.

Der vierte Akt: Siegfried bereut seine voreilige Tat. Der Geist Dragons erscheint. Der Turmwächter bringt Genovevas Brief. Siegfried liest: „ … Richte keinen anderen zu Tode, bevor Du ihn angehört hast. Ich verbleibe Dir Deine treue Gattin noch im Grabe … „. Golo nennt er den „schwarzen Bösewicht“. Der Geist Dragons verfolgt Golo. Der fünfte Akt: Im Wald. Genoveva fühlt sich matt: „ … ich fühl, dass ich bald sterben werde“. Sie gibt Schmerzensreich einen Ring und zeigt ihm den Weg, der ihn zu Siegfried führen wird. „Liebe Mutter, hab ich denn auch einen Vater auf Erden? Du hast mir bloß von dem himmlischen Vater erzählt“, wundert sich Schmerzensreich.

Während einer Jagd verwundet Siegfried die Hirschkuh, die ihn dann zur Höhle führt. Hier sehen sich Genoveva und Siegfried wieder. Selbstanklagend sagt Siegfried: ,,So haben denn wilde Tiere mehr Erbarmen gehabt als ich?“ Genoveva: „Ich vergeb Dir alles aus reiner Liebe … „. Diese Szene endet mit Siegfrieds Feststellung: „Herr, da droben, Deine Wege sind zwar dunkel, aber wunderbar und gut“.

Der sechste Akt bringt dann die Bestrafung Golos. Vier Pferde sollen ihn zerreißen. Kasper: „Wir wollen aber vier Ochsen nehmen, da geht’s ein bisserl langsamer, da muss er länger zappeln“. Hier steht Kasper für extreme Handlungsweisen. Im Ansatz gut gemeint, sind seine Vorschläge in der brutalen Ausführung nicht zu überbieten.

Der letzte Akt des Nachspiels zeigt Genoveva aufgebahrt auf dem Paradebett. Siegfried: „Jetzt stehe ich nun einsam an Deinem Sarge, um Dich zu betrauern“. Schmerzensreich: „Ach meine gute Mutter ist tot! Nun habe ich keine Mutter mehr“. Auch die Hirschkuh weicht nicht von dem Paradebett, sie bezeugt dadurch ihr stummes Wehklagen …. „Aber dort wo meine Gemahlin sieben Jahre gelebt hat, dort will ich eine Kapelle erbauen. Es soll ein Wallfahrtsort werden“ … „Ruhe sanft“ …

Nach der Aufführung der Genoveva in Polen, so erzählt der Puppenspieler Winter, sind viele Frauen hinter die Bühne gekommen und wollten die Puppe Genoveva sehen. Sie haben sie wie eine Heiligenstatue verehrt und Hände und Rocksaum geküsst. Wie kommt es zu dieser frommen gefühlsbetonten Überhöhung dieser Figur des Puppenspiels? Sie hat etwas von einer Heiligen, das sich nicht nur in ihrem Leben und Handeln aufzeigen lässt. Zu ihren ideellen Vorfahren gehört die heilige Genoveva, die im fünften Jahrhundert in Frankreich lebte und noch heute Schutzpatronin von Paris ist. Auch Assoziationen an Maria und Jesuskind gehen von Genoveva und Schmerzensreich aus. Sie hat aber auch etwas von einer Edelfrau, denn zu ihren Geschichte liefernden Vorfahren gehört die Pfalzgräfin Genoveva von Trier, die 750 starb. Sie ist nach der Legende des 15. Jahrhunderts fälschlich des Ehebruchs beschuldigt und zum Tode verurteilt worden. Flucht und Leidenszeit in der Waldeinsamkeit bilden den Hauptteil der Legende. Ihre Heimholung wurde zum Höhe­punkt der Geschichte. In Bearbeitungen des 17. Jahrhunderts wurde es zum Volksbuch und diente vielen Dichtern als Stoff. Neben einer Opernfassung von Robert Schumann (1847) und einem Schauspiel von Ludwig Tieck (1800) ist wohl Hebbels Fassung (1842) der Genoveva die literarisch wichtigste Bearbeitung. Ein Kurzgespräch zwischen Genoveva und Siegfried mag einen Eindruck der Hebbelschen Fassung und Auffassung geben:

Genoveva:

Ich bin ein Weib. Ein Weib verhüllt den Schmerz,
Denn er ist hässlich und befleckt die Welt.
Ich bin ein Mensch. Nicht jammern darf der Mensch,
Seitdem am Kreuz der Heiland stumm verblich.
Drum in der Brust begrab ich still mein Weh,
Wie man mich selbst, bin ich einst tot, begräbt.

Siegfried:

Mir deucht, ich tu ins Allerheiligste
Mit aufgeschlossnen Augen einen Blick.
Dies fehlt dem Mann noch, wenn ihm nichts mehr fehlt,
Dass er das Weib nicht kennt, so wie sie ist,
Sie bildet aus sich selbst, was er umsonst
Aus äußerm Lebensstoff zu bilden sucht,
Drum ist sie auch sich selbst nur untertan,
Er jedem Element, das ihn umgibt.

Jeder Versuch einer Interpretation dieser Frauengestalt Genoveva wird durch die eigene aktuelle Situation mitgeprägt. Jeder Blick zurück in die Geschichte trägt ein Stück „Heute“ in die Vergangenheit. Sie hat weibliche Tugenden, die ihr zum Zweck der Unterdrückung zugesprochen wurden und werden, aber die auch zu einem Moment ihrer eigenen Befreiung werden können. Sie entspricht auf der einen Seite dem Leitbild der sich still ergebenden Frau, frei jeder Begierde, heilig in ihrer Mutterschaft und erstrahlend in lauter Reinheit. Sie übt jedoch Geduld, hat Erfahrung im Leiden und empfindet dies als ihre ureigenste Kraft. Sie hat Mut zur Demut. Sie liebt wehrlos, ausgeliefert bis zur Selbstaufgabe. Sie ist schön, attraktiv und ruft ungewollt, uninszeniert Zwietracht hervor. Sie lebt im Wald mit ihrem Kind. Sie ist ausgeschlossen von dem, was als „Zivilisation“ bezeichnet wird. Sie muß Monotonie ertragen. Sie muß all ihren Glauben und ihr Wissen einsetzen, um zu überleben. Ihren Lebensunterhalt, oder besser pures Überleben, sichert und organisiert sie durch Sammeln von „Kräutern und Wurzeln“. Der Schutz vor wilden Tieren und widrigen Wettern gehören zu ihren tagtäglichen Aufgaben. Ihr Sohn Schmerzensreich wird früh in diese Arbeiten miteinbezogen. Dies macht sie nicht nur für die Dauer eines Abenteuerurlaubes von drei Wochen, sondern überlebt sieben Jahre in der Waldeinsamkeit. Sie wird zum Teil der Natur, sie wird aufgenommen. Selbst Tiere, wie die Hirschkuh, werden zu helfenden Geistern. Alle Boshaftigkeiten scheinen in diesen Gegenden machtlos zu sein. Sie ist keine passive Frau. Warum lehnt sich Genoveva eigentlich nicht auf? Bei ihr jedenfalls beginnt die Selbstfindung (die für sie gar keine Frage ist), also ihr eigentliches Leben nicht mit dem Aufbegehren, sondern mit dem Dulden.

Sehen wir uns nun den Gegenpol zu diesem Frauenbild an: Medea gehört zu den klassischen Frauengestalten, die in der Rache den höchsten Wert feiern. Der sentimentalen Überhöhung der Genoveva steht eine durch Angst geleitete Dämonisie­rung Medeas gegenüber.

Wie erscheint Medea im Puppenspiel?

Medea und Jason

tragikomisches Spiel in 3 Aufzügen
(Abschrift aus einer Kladde, gez. H. Genzel)

Vorbemerkung: Das Marionettenspiel von „Medea und Jason“ gewährt einen tiefen Einblick in menschliche Kontakte und Konflikte. Deshalb ist es mehr als ein Unterhaltungs­spiel. Die Erkenntnisse daraus möchte es vor allem unserer Jugend vermitteln.

1. Akt: Der König von Kreta hat Geburtstag. Sonnendurchflutet erscheint der Bühnen­garten.

König: „Die Sonne erwacht in ihrem Glanze und ihrer Pracht. Sie wirft ihre goldenen Strahlen über die Mutter Erde. – Sei mir gegrüßt, Du Licht des neuen Tages“.

Da er sich als gutmütiger König versteht, hat „jedermann freien Zutritt zu ihm“ und nicht er, sondern seine Besucher dürfen Wünsche vortragen … Medea, seine Tochter, darf sich wie alljährlich einen Gefangenen als Geisel wählen.

Medea: „Lieber Vater, gib mir Jason frei, damit ich ihn martern und geißeln darf“.

In einem zweisätzigen Monolog gesteht sie, was sie unter geißeln versteht: „ … ich will ihm die Rosenbande der Liebe anlegen, denn für ihn schlägt mein Herz, seit ich ihn gesehen“. Die Liebesgeschichte scheint sich im Vergleich zum Genoveva-Spiel umzukehren. Medea ist in der Rolle des Golo.

Nun fällt wieder Kasper in die Szene: „Nain, wat et nich alles jiiibt! Da hatte ich mir nu soo’ne Rede einstudiert, da falle ich daher und mir fällt die schöne Rede aus meinem Gehirnkasten wieder raus“.

Kasper hat in diesem Stück wiederum eine Dienerrolle: er ist Jasons Sklave. Auf Medeas Einwand, dass Jason als Gefangener doch weder Sklaven, noch Bedienung brauche, antwortet Kasper: „ … Mein Herr keine Bedienung?! Ein edler Fürst! Es ist der Fürst von Cypern! … „, der nun bereits vier Jahre in Gefangenschaft lebt. Medeas Gespräch mit Kasper zeigt extreme Stellungnahmen, es geht von „Dein Herr soll sterben“ (Medea), über „Wer bist du denn, dass du hier so mordsmäßig befehlen kannst?“ (Kasper), bis zu „Da du so schön bittest, sei dir das Leben geschenkt … , auch Deinem Herrn sei es geschenkt“. Kaspers Freude ist groß: „Heißa! Lustig! Da wären wir wieder gut weggekommen“. In seinem Überschwang macht er Medea einen Heiratsantrag: „ … und wenn’s gleich fünf Groschen kostet“.

Jason werden die Ketten und Bande abgenommen, er ist frei. Aus den „Tagen der Martern“ werden nun für ihn die „Tage der Freiheit“. Medea, der Zauberkunst mächtig, ruft ihren dienstbaren Geist der Hölle, Cramboribor und möchte durch ihn erfahren, ob Jasons Herz noch „frei und unbefangen sei“. Er antwortet nicht eindeutig und geht mit einem „Hahaha … “ von dannen. Medea zieht sich mit den schönen Worten zurück: „Ich gehe in mein Gemach, um meinen Gedanken Audienz zu geben“. Es folgt eine Szene voller volkstümli­cher Komik, die jedoch die Standesunterschiede offenlegt. Ein Bauer und eine Bäuerin erscheinen dauernd verbeugend und knixend vor dem König als Deputation, um zu berichten, dass Furchtbares auf der Insel geschieht. In einer Höhle sei das goldene Vlies verborgen und werde von einem grausamen Drachen und einer gefährlichen Schlange bewacht. Diese Ungeheuer verwüsteten die „Reis- und Mais“-Ernte. König: ,, … den Menschen muss geholfen werden … „.

Als edler Kämpfer wird Jason ausgewählt, jedoch soll er sich nicht mit Schwert und Lanze verteidigen, die Zauberin Medea weiß ein besseres Mittel: ein Blumenstrauß wird seine Waffe sein! Der Duft der Blumen wird „die Ungeheuer in tiefen Schlaf wiegen, aus dem sie nicht mehr erwachen werden“. Jason willigt ein, „ … denn besser im blutigen Kampf gestorben als im feuchten Keller“. Bevor Kasper in den Kampf zieht, hat er noch ein Treffen mit dem Bauern und der Bäuerin im Garten des Königs. Sie finden sich in den Irrwegen nicht zurecht. (Kreta, Labyrinth, Erinnerungen an die Theseus-Sage sind erlaubt!) Die Szene endet in einem Handgemenge zwischen Kasper, Bauer und Bäuerin. – Hochdramatisch wird der Kampf zu einem Kampf Kaspers. In der Phantasie besiegt er Schlange, Drachen und 300 Feuergeister. Jason fuchtelt mit dem Blumenstrauß den Ungeheuern vor der Nase herum. Nachdem sie erst Feuer ausgespien haben, schnup­pern diese und fallen dann tot um. Vor Medea weiß Kasper seine großen Taten zu berichten. „ … das Beste habe ich getan“, und bekommt zur Belohnung sechs Goldstücke. „Ei, ei feine Sache, rein in meine Tasche“.

Nun folgt der große Konflikt: Medea: ,,Nimm meine Hand, Jason … als König von Kreta“. Jason: ,,Halt ein, Medea – gib mir drei Stunden Bedenkzeit“. Medea ist irritiert und reagiert:

„ … drei Stunden sind dir gewährt – nutze sie aber gut, mich lieben zu lernen, oder – fürchte meine Rache“. Diese Situation hatten wir in Genoveva im ersten Akt zwischen Golo und Genoveva, hier ist Medea die Betroffene.

Erst jetzt erfahren wir, dass auf Jason sein „trautes Weib wartet“. Für Jason stellt sich die Frage: „Wie komme ich von Medea los?“ Mit Hilfe des Blumenstraußes! Er benutzt Medeas Zaubermittel. Er ruft Cramboribor, der ihn durch die Kraft des Blumenstraußes in seine Heimat Cypern bringt. Medea erfährt durch Cramboribor den Tatbestand. Medea: „Cramboribor, gib mir die Rache in die Hand, das Weib muss vernichtet werden“. In der Gestalt Medeas will Cramboribor in Cypern erscheinen und Kreusa den Giftbecher reichen. Medea: „Und an ihren Qualen will ich mich erfreuen! … O ihr Furien, streut Gift auf mich, umwindet mich mit eurem Schlangenhaar“.

Der letzte Akt zeigt Kreusa von Vasallen bedrängt, die sie zu einer neuen Heirat drängen. Sie hat bereits vom Wein getrunken und hat ein „eigenartiges Gefühl“. Jason erscheint im letzten Augenblick, die Wiedersehensfreude ist kurz, Kreusa stirbt.

Kreusa: „Lebe wohl … mein Jason – auf ewig – lebe – wohl“. (sinkt zurück) Jason bittet Medea, Kreusa das Leben wiederzugeben. Nur das steht nicht in ihrer Macht. Jason will im ersten Augenblick Medea töten, besinnt sich jedoch: „ … unsere Liebe reicht über das Grab hinaus, und was uns im Leben verwehrt ist, soll uns der Tod geben“. Jason tötet sich, bettet sich neben Kreusa und stirbt.

Schluss: Medeas große Trauer „ … er ist gestorben – er ist dahin – ich will auf einen Berg und den Göttern opfern – wie tief sitzt der Schmerz, wie sehr habe ich ihn geliebt.–„

Sie kommt in die Hölle, „ … dort Medea, ist dein Brautgemach! Hahaha!“ Dazu heftiger Donner, alles Licht erlischt, bis auf das der Hölle. Beide, Medea und Cramboribor, versinken. – Vorhang.

Medea

Dieses Spiel um Medea entpuppt sich als Kampf zwischen Mann und Frau. Hassliebe, die unheilvolle Verquickung, wird im volkstümlich aufbereiteten Kunstdrama aktualisiert. Dem „naiven und unverbildeten“ Publikum waren diese Stücke gedacht, dem „intelligenten und verbildeten“ Publikum galten die ernsten klassischen Aufbereitungen. In klarer und einprägsamer Sprache wurden die klassischen Geschichten weitergegeben. Der Inhalt blieb erhalten, wobei es mit der Genauigkeit von Ort, Zeit, Handlung der überlieferten Versionen nicht zu ernst genommen wurde. Persönliches, Aktuelles, Verallgemeinerungen und Witz vom Puppenspieler wurden spontan hinzugefügt. Jede Medea-Aufführung auf dem Puppen­theater konnte dadurch zur Premiere werden. Die Figur des Kasper, meist vom Meister selbst geführt und gesprochen, hatte großen Anteil daran.

Der Titel einer anderen Puppenspielvariante heißt: „Medea, die Höllenbraut“. Medea steht im Kontakt mit der Unterwelt, der Hölle, mit den satanischen Mächten. Sie mordet aus Eifersucht (Kreusa), tötet aus Liebe (in anderen Medea-Bearbeitungen tötet sie ihre Kinder, anschließend dann auch oft sich selbst) und macht Männer zu Sklaven (Jason), Sie wird als wütende Furie, als schrankenlose freie Persönlichkeit, als Dämonin dargestellt. Ihr aggressi­ves Verhalten ist im Grunde Ausdruck von Trauer über den Verlust von Zärtlichkeit. Selbst in dem hier vorgestellten Puppenspiel gesteht sie: ,,Wie tief sitzt der Schmerz!“ Auch sie leidet wie Genoveva.

Im Puppenspiel ist Medea eine Zauberin, die ihre Kenntnisse nicht nur heil-, sondern vor allem todbringend einsetzt. Auch sie ist Teil der Natur, jedoch einer gewalttätigen, bedrohlichen Natur. Sie nimmt für sich als Mutter nicht nur das Vorrecht in Anspruch, Kinder zu gebären, sondern auch zu vernichten.

Die Medea anderer Bearbeitungen kann auch zauberhaft sein, sie bezaubert andere. Im Puppenspiel ist Kasper hingerissen: „ … ist sie doch ein schönes Weib: schwarze Augen – rote Wangen – zum Küssen!“ Für Jason (jedoch nicht in der Puppenspielversion) ist sie im Land der Kolcher strahlender Mittelpunkt. Er hätte ohne ihre Hilfe (ohne ihre Zauberkräfte) nicht das goldene Vlies erringen können. Er nimmt sie als Frau mit in seine Heimat, nach Griechenland. (Im Puppenspiel werden die verschiedenen Länder auf die Inseln Kreta und Cypern reduziert.) Sie haben gemeinsame Kinder. Im neuen Land eine Fremde, versucht Medea sich den Sitten, Gebräuchen und Äußerlichkeiten anzupassen. Dies gelingt ihr nicht. Das Drama für Medea enthält seinen Auslöser dadurch, dass Jason eine andere Frau, eine Griechin, wählt. Medea wird verstoßen und rächt sich, in ihrem innersten Wert getroffen, grausam.

Der Stoff ist in jeder Zeit anders bearbeitet und dargestellt worden. Die Spannweite reicht von der typisch normalen bis zur außergewöhnlich mythischen Gestaltung.

Nur einige klassische Versionen seien in Stichworten oder einprägsamen Zitaten vorgestellt:

  • Euripides (430 v. Chr.): „Ich leidendes unglückliches Weib. Weh, weh mir. Wär ich des Todes.“ (Herausarbeitung eines psychologischen Extremfalles -, wie es heißt)
  • Seneca (55 n. Chr.): Medea – Dämonin
  • Corneille (1635): Alle Gestalten erscheinen hemmungslos.
  • Grillparzer (1817): Er schickt Medea wie eine christliche Eremitin zum Büßen. „Trage, Dulde, Büße.“
  • Jahnn (1920): Medea wird als Negerin dargestellt. Die gemeinsamen Kinder mit Jason sind Mulatten. Kinder sind hier keine Puppen, sondern handelnde Menschen. Abschiedsworte Medeas: „Ist sterben doch leicht, schwerer zu leben“.
  • Jeffers (1946): Medea wiederum als Naturgewalt, als elementares Wesen. ,,Ah, faul, faul, faul. Der Tod ist das ewige Wasser, das solchen Schmutz wäscht ab“.
  • Anouilh (1946 ): Medea ist eine Zigeunerin. Sie bringt ihre Kinder um und wirft sich dann selbst in den brennenden Zigeunerwagen. ,,Leb wohl, Medea. Ich kann dir nicht mehr wünschen, sei glücklich … Sei du selbst“. Ihre Selbstverwirklichung findet sie in der Selbstvernichtung.

Die Beschäftigung mit diesem Thema gibt eine Möglichkeit, die etikettierenden Klischeevor­stellungen der Frau in ihren Extrempositionen zu sehen. Aber auch, wie ich versucht habe aufzuzeigen, die enge Verwobenheit beider Ausdrucksformen in der einzelnen Frauenge­stalt. Die Puppenspiele Genoveva und Medea geben Anlass, mit Herz und Kopf darüber nachzusinnen.

„Oh, nun ist alles gut“, sagt Genoveva im Puppenspiel, während Medea im Puppenspiel fragt: ,,Was willst du tun?“