Hermann Nitsch – Kunst pro St. Petri

Nitsch St Petri

Hermann Nitsch

Passionen

Ausstellung vom 14.7. – 31.8.1991 in der St. Petri-Kirche zu Lübeck

Aktionsmalerei und Relikte

. . . Kunst ist Religionsausübung . . .

. . . Die Kunst steht in Stellvertretung des wirklichen Lebens, und sie steht in Stellvertretung des Heiligen. Transsubstantiation ist ihr nicht möglich, aber Stellvertretung ist möglich . . .

Bild: Herbert Jäger, Lübeck

Kunst ist Religionsausübung

Hermann Nitsch im Gespräch mit Roswitha Siewert in St. Petri zu Lübeck am 22. April 1991

R. S.: Durch den Ort gegeben, meine erste Frage: Stellen Sie das erste Mal in einem Kirchenraum aus?

H. N.: Ich habe öfter schon Aktionen in Kirchenräumen durchgeführt. Bilder und Relikte habe ich eigentlich noch nie in der Kirche ausgestellt. Es ist meines Wissens das erste Mal und vor allem das erste Mal, dass mir so eine großartige Kirche zur Verfügung steht.

R. S.: Sie wissen auch, dass St. Petri eine Kirche ohne Gemeinde ist und die normalen sonntäglichen Gottesdienste nicht stattfinden. Der Punkt der gewohnten kirchlichen Praxis fällt weg. Sie ist aber eine geweihte Kirche und in Händen der Kirche.

H. N.: Da fällt mir gerade ein, dass ich eine ganz wichtige Aktion, eine meiner wichtigsten, die ich je durchgeführt habe, in Bologna, in einer großen barocken Kirche realisierte, die von Napoleon entweiht worden ist. Sie wurde auch nicht mehr als Kirche gebraucht. Ich würde sagen, ob die Kirche in Betrieb oder nicht in Betrieb ist – oder gerade deshalb, weil sie nicht in Betrieb ist, bleibt die großartige Architektur der St.-Petri-Kirche. Es ist etwas ganz Entscheidendes, dass sich der Künstler mit dieser Architektur auseinanderzusetzen hat.

R. S.: Wie treffend Sie damit „Kunst pro St. Petri“ formulieren! – Nun wird es mit Ihrer Kunst noch spannender im Kirchenraum. Ihr Thema ist das Sakrale, nicht nur die ästhetische Seite, sondern das Ritual mit seinen Symbolen: Themen wie das Abendmahl, Wein und Brot, Fleisch und Blut, das Schaf als Opferlamm, religiöse Handhabungen fließen in Ihre Arbeit mit hinein. Im kirchlichen Gebrauch übliche Dinge tauchen als Versatzstücke wieder auf. Es geschieht eine künstlerische Resakralisierung in der kirchlichen Architekturhülle. Arbeiten Sie parallel zur liturgischen Praxis oder ersetzen Sie sogar mit künstlerischen Mitteln die religiösen Kirchengewohnheiten?

H. N.: Da müsste ich jetzt sehr weit ausholen. Das sind Dinge, mit denen ich mich sehr lange intensivst beschäftigt habe. Ich bin der Meinung, dass Kunst nicht nur Religionsersatz sein kann, sondern dass Kunst Religionsausübung ist. Nach dem Verblassen unserer großen traditionellen Religionen hat der normale Mensch eigentlich wenig Möglichkeit, sich religiös zu betätigen. Ich sehe für die Kunst große Aufgaben in dieser Hinsicht. Es ist schwer zu trennen, beim kultischen Akt, was ist jetzt Kunst im kultischen Akt und was ist jetzt tiefes religiöses Erleben. Für mich waren alle Rituale Kultvorgänge, immer zutiefst künstlerische Vorgänge. Es handelt sich um Inszenierungen, die ohne Kunst nicht möglich sind.

R. S.: Die gegenwärtigen Gottesdienste scheinen im allgemeinen ohne Kunst zu funktionieren. Sie – die heutige Kunst – wird als Störfall und entbehrlich in der Kirchenpraxis angesehen. Sie scheint in der sichtlichen Hilflosigkeit der Rezipienten höchstens noch kirchenpolitisch interessant zu sein. Allenfalls darf sie freundlich oder apokalyptisch Bibelstellen illustrieren und die sanfte, höchstens Mitleid erregende Schönheit von Fleißbildchen haben. Sie – im Gegensatz dazu – knüpfen mit Ihrer Kunst da an, wo Kunst und Religion noch eine Einheit waren oder sich brauchten. Da, wo beide noch unter die Haut gehen und „bis aufs Blut“ reizen. Das ist ein Rückgriff und vielleicht ein Neubeginn.

H. N.: Wir wissen, dass die Kunst ihren Ursprung in der Religionsausübung hatte. Die ersten Versuche zu gestalten, die ersten großen Leistungen der Kunst waren mit dem Kultischen, mit dem Religiösen, mit dem Mythischen verbunden.

R. S.: Was in Ihrer Kunst- bzw. Ihrer Religionsausübung auffällt, oder besser, was mich so für Sie eingenommen hat, ist nicht nur die Verquickung von Kunst und Religion, sondern die Intensität und Ausschließlichkeit, wie Sie den Weg dieser Verquickung gehen. Alle Sinne dafür aktivieren und passionieren.

H. N.: Das hängt mit einer großen Wandlung zusammen der wir mehr oder weniger alle unterworfen sind. Einer Wandlung des gesamten Bewusstseins. Was für mich wichtig ist, dass ich zum Leben rückhaltlos ja sage. Mein Kult gilt nicht einer Gottheit in der Transzendenz, für mich transzendiert auch unser Dasein. Für mich transzendiert jedes Erlebnis. Für mich gibt es nicht die Trennung zwischen Diesseits und Jenseits. Ich lebe in einer rätselhaften gewaltigen Welt, die ich nur zu einem kleinen Teil bewusstseinsfähig erkennen kann. Der größte Teil liegt im Irrationalen, im grundlosen Grund. Er wird mir verborgen bleiben, aber ich kann ihn spüren durch mein religiöses Leben. Es gibt ein religiöses Erleben, das auch die Freude meint, das Dasein meint, damit die ganze Schöpfung, die ich aber rational nicht ganz erfassen kann. Es geht mir um eine Religion der Lebensbejahung, nicht um eine Religiosität der Lebensverneinung.

R. S.: Damit unterscheiden Sie sich eigentlich von der christlichen Religiosität, die das Leben als Durchgangsstation zum erlösenden ewigen Leben sieht und damit den Blick auf das alltägliche Dasein als lebenswert verdrängt. Durch das Leiden am Leben zur Auferstehung oder zur Erlösung im und nach dem Tod. Oder? . . . Ihr Thema in den Aktionen sind die Passionen . . . die Passion . . .

H. N.: Es gibt Dinge am Christlichen, die mich faszinieren, und es gibt Bereiche, die ich nicht mehr nachvollziehen kann. Gerade weil ich soviel von der Lebensbejahung spreche, ich die Passion zutiefst anerkennen, weil, wenn man das Leben bejaht, darf man sich dem Tragischen nicht verschließen. Das Tragische ist die Gegebenheit, die das Leben auf sich nehmen muss. Das Leben setzt an, das Leben will etwas verwirklichen und scheitert; das ist der tragische Moment. Das Leben setzt wieder an und wiederholt. Es wiederholt immer wieder, bis es gelingt. Wenn es aber vorerst nicht gelingt, dann ist der Moment des Tragischen gegeben, damit sind wir alle konfrontiert. Alles ist zumindest unser Tod. Die Welt verwandelt sich permanent. Es ist ein ewiges Fließen. Es gibt Aufbau und Zerstörung, das sind relative Begriffe, sie sind durch uns bedingt. In Wirklichkeit ist alles ein permanentes Fließen, das wir nicht verstehen. Für mich ist Tod eine Verwandlung, ein Abstieg in die Grundbereiche der Natur, worauf die Auferstehung wieder stattfindet.

R. S.: Zur Unterscheidung von Kunst- und Kirchenpraxis: die Kirchenpraxis übt sich mehr in aktiver Sterbehilfe. Schmerz und Leiden als Sinn des Lebens und nahes Ende zum Übergang zu sehen und zu erleichtern, an der Pforte zum Sterben dann die Hand zu reichen. Die Kunst ist mehr eine aktive Lebenshilfe, weil sie das Dasein meint und z. B. wie in Ihrer Kunstaktivität, die nicht die Trennung Leben und Tod, Immanenz und Transzendenz feiert, sondern den fließenden Übergang. Ihre Ausstellung geht in diesem Raum weiter, über die Passion hinaus.

H. N.: Sie sagen aktive Sterbehilfe. Ich glaube, dass der Schmerz notwendig ist, damit Leben sei. Wenn wir Lust und Freude haben, darin müssen wir auch bereit sein, Schmerz zu empfinden. Je mehr wir uns sensibilisieren, je mehr wir intensive Glückserlebnisse haben, je mehr müssen wir bereit sein, tiefe Schmerzerlebnisse zu haben. Das ist ein Dualismus, der ergänzt sich. Der Schmerz ist dazu da, damit Leben sei. Wir werden geboren unter Schmerzen, die Erotik und Sexualität hat mit Schmerzen zu tun, der Tod hat mit Schmerz zu tun. Arbeit ist dosierter Schmerz, damit z. B. so eine gigantische Kathedrale aufgebaut werden kann. Schmerz ist eine notwendige Tatsache.

R. S.: Das Arbeiten mit Blut ist dann eine notwendige Folge.

H. N.: Ich bin jetzt nicht da, um vergangene Religionen zu kritisieren. Das ist nicht meine Absicht. Aber in allen Religionen war die Trennung von Transzendenz und Immanenz. Das Leibliche ist immer schief angesehen worden. Es wurde verboten oder verdrängt. Wie gesagt, für mich ist Religion Bejahung des Daseins, auch in metaphysischer Hinsicht, weil mein Glaube so ausgerichtet ist, dass ich glaube, dass ich immer wiederkomme, dass die Natur so eingerichtet ist, dass nichts verlorengeht. Dinge und Lebewesen versinken, um wiederzukommen. In aller Ewigkeit wird sich das wieder ereignen. Im großen Glückserlebnis erkenne ich den Sinn des Daseins. Ich spreche oft von Daseinsmystik. Mystik ist nicht nur eine Abkehr von der Welt. Sie kann auch tiefere Einkehr sein.

R. S.: Es ist auch eine Identität von Innen- und Außenwelt. Je mehr wir uns damit auseinandersetzen, um so intensiver existieren wir. Sie haben das an einem Zitat von Ponty intensivst deutlich gemacht: ,,Die Liebe ist jener Moment, in dem sich Innen- und Außenwelt vollkommen decken.“ Man ist so im anderen, das kann ein Mensch oder auch eine Sache sein. Sie oder der andere oder auch das andere ist dann ein Repräsentant der Außenwelt: Sonne, Mond, Blüte, Temperament. Einfach alles. Wie sehen Sie denn in diesem Zusammenhang: das andere, den Raum der Petrikirche für Ihre Arbeiten? Sie ist überhell, heiter richtungslos, filigran und fast körperlos im Sonnenschein. Licht wie inszenierte Auferstehung.

N.: Sie ist eine wunderbare Kirche. Sie ist authentisch restauriert, aber mit viel formalem Können. Ich bin ganz begeistert und übernehme auch Ihre subjektive Empfindung, diese Kirche hat wirklich mit Auferstehung zu tun. Wir sitzen jetzt im April – um 7.00 Uhr abends – und es ist noch taghell in der Kirche.

R. S.: Noch anders: Rudi Fuchs hat zur ersten Ausstellungseröffnung – Ihr Landsmann Arnulf Rainer stellte hier aus – gesagt, dass mit der Ausstellung die respektvollste Form der Restaurierung geschehen sei. Sie habe das alte Bauwerk aus seiner geschichtlichen Isolation entlassen und zieht es mit in die heutige Zeit. Statt stillzulegen (in seinem Ursprung), fügt es Neue Kunst zu Kunst hinzu – und damit lebt die Kirche auch in Zukunft . . . .

H. N.: . . . viele Bezüge ergeben sich. Wenn ein Künstler, und vor allem wenn ein Künstler von der Sakralisierung der Kunst, von der Sakralisierung des Daseins spricht, müsste es die Erfüllung eines Traumes sein, in dieser Kirche auszustellen.

R. S.: Versöhnung Ihrer Kunst, einbezogen die Angriffe auf Ihre Kunst, in und mit der Kunst eines höchst-ästhetischen Kirchenraumes. Stellen Sie auch frühere Arbeiten, Relikte aus den 60er Jahren des Wiener Aktionismus aus?

H. N.: Ich schweife jetzt ein bisserl aus. Alle wissen, dass ich eine neue Form von Theater entwickelt und auch realisiert habe. Für mich wäre es ein Problem, mein Theater in einem klassischen Theater zu realisieren. Ein bisschen ähnlich ist es mit dieser Kirche hier. Sie ist eine unglaubliche Vorgabe. Diese Kirche ist in einer Zeit entstanden, wo die Menschheit noch existentiell gläubig war, wo die Religion noch eine tiefe existentielle Kraft hatte. Das sieht man ja hier. Da ist die Kunst gespeist worden durch einen grundsätzlichen Glauben. Die heutigen Kirchen sind alle so hässlich, weil nicht mehr geglaubt wird, weil kein Glaube mehr in der Kunst, in der Architektur ist. Es ist für mich eine Aufgabe, in eine Kirche, die so sehr von echter Religiosität getragen ist, jetzt meine Arbeiten hineinzubringen.

R. S.: Mit der Grazer Installation im Chor bringen Sie formal und inhaltlich ein Triptychon der Passion von heute hinein. Der Schmerz und das Fließen des Blutes, wenn eine Dornenkrone auf den Kopf oder wie es heißt: auf das Haupt gedrückt wird, wird künstlerisch-christliche Metapher. Die Schüttbilder mit Malhemd nennen Sie auch Kreuzwegstationen. Die historisch liturgischen Gewänder vor den Bildern geben eine Gleichzeitigkeit aus Vergangenheit und Gegenwart des Themas. Das geschlachtete Schaf wird – als Haut – Abgezogenes mit Seitenwunde, zum Opferlamm. Auch Ihr frühes Fresko Brot und Wein von 1960 soll ausgestellt werden. Ein bewusster Austausch und synthetisches Spiel in verschiedenen Zusammenhängen.

H. N.: Mir wird oft im Zusammenhang mit meiner Arbeit vorgeworfen, dass ich Blasphemien mache und dass ich religiöse Symbole aus dem Zusammenhang reiße und neu zusammenstelle. Ich muss sagen, dass das wohl auch stimmt aus bestimmter Sicht, aber in keiner Weise geschieht dies in beleidigender Absicht. Man muss mich als Künstler, irgendwie auch als Wissenschaftler, als Religionsphänomenologen begreifen. Ich interessiere mich für alle Religionen, für alle Daseinssymbole. Ich mache quasi eine große Collage mit religiösen Symbolen, die ich einander gegenüberstelle, und da entstehen Kräfte und Spannungen, die ich gerade für das Wirken meiner Kunst brauche.

R. S.: Wie wird sich das in St. Petri zeigen? Der Raum wirkt in der Collage mit.

H. N.: Wie gesagt, ähnlich wird es hier. Hier werde ich eine riesige Collage mit Symbolen und sinnlichen Tatsachen herstellen, und da ist diese Kirche ein wesentlicher Bestandteil dieser Collage und, wie schon gesagt, eine gewaltige Vorgabe, die ich ausnützen muss. Jetzt haben Sie schon vorhin gesagt, wie der Rudi Fuchs in seiner knappen und immer treffenden Art gesagt hat, dass man Kunst und andere Kunst in Verbindung bringt. Ich möchte Kunst und andere Kunst in Verbindung bringen und daraus Neue Kunst machen. Also nicht eine Kirche voll mit Bildern räumen, sondern mit all dem, was mir zur Verfügung steht, will ich ein neues Kunstwerk machen.

R. S.: Ihnen steht nun sehr viel zur Verfügung. Was werden Sie auswählen und wie dosieren? Da gibt es das Orgien-Mysterien-Theater in Prinzendorf, die Relikte daraus, die Aktionsbilder, die Bereiche des Aseptischen, des Labormäßigen . . . Ihre Musik, Ihre Texte usw. Einzig wirklich verbindlich für St. Petri wäre die „Grazer Installation“ – als Neues Altarbild – im Chor. „Neue Kunst“ wäre dann Ihr Begriff vom Gesamtkunstwerk als Gesamtausstellung in St. Petri. Sie haben den Begriff aus dem 19. Jahrhundert neu formiert und auch gewandelt.

H. N.: Das ist sehr wichtig, was Sie jetzt sagen. Ich bin ein großer Verehrer von Richard Wagner und Scriabini. Aber die haben alle mehr oder weniger die einzelnen Kunstgattungen addiert, was kein Nachteil war, was aber im 19. Jahrhundert dem Kunstverständnis entsprach, etwas synthetisch zusammenzubringen. Mein Theater ist eigentlich durch die neueste Kunst hindurchgegangen, vor allem durch die Happening-Bewegung. Es ist eine neue Kunstgattung entstanden, und zwar ging es darum, dass man die Realität mit einbezogen hat, reale Geschehnisse inszeniert hat. Die Väter davon waren John Cage, Allan Kaprow und – ich glaube – ebenso die Wiener Aktionisten. Im neuen Theater werden keine Rollen gespielt, kein Schauspieler imitiert einen Othello, einen Lear, reale Geschehnisse werden inszeniert.

R. S.: Können Sie wichtige Beispiele dafür geben?

H. N.: Zum Beispiel: Ein Schaf, ein geschlachtetes Schaf wird abgehäutet, wird an ein Kreuz genagelt und wird ausgeweidet. Ein nackter Mensch läuft im Raum herum, wird von anderen gefangen und wird an ein Kreuz gebunden – das sind reale Geschehnisse. Oder . . . die Menschen essen ein Stück Fleisch, salzen es, trinken Milch dazu und essen Brot und trinken Wein. Diese realen Geschehnisse müssen durchgeführt werden, sie müssen mit allen fünf Sinnen erfasst werden, alles ist sehbar, hörbar, schmeckbar, riechbar und ist tastbar. Die Eindrücke sind nicht mehr durch die Kunstgattungen oder Medien getrennt.

R. S.: Nur . . . das müssen wir wieder erlernen, mühsam reaktivieren. In der flatterhaften Medienvielfalt des Alltags, die auf unsere Sinne kommt, finde ich es schon ein Erlebnis, konzentriert und intensiv ein Bild ansehen zu können: Schon Musik kann stören und ablenken, wenn sie nicht aus einem Gesamtzusammenhang kommt, der auch das Bild meint, mit einbezieht und betrifft. Es geht nicht um Beliebigkeit, die zum Dogma werden kann, nach dem Motto: alles ist möglich. Sie wählen aus, und zwar unter dem subjektiven Blick Ihres Künstlerdaseins.

H. N.: Die Medien sind nicht getrennt. Was ich optisch sehe, entspricht der Malerei, der Skulptur, der Bewegung, dem Tanz. Was ich höre, entspricht der Musik. Was ich schmecke, entspricht vielleicht der Sprache. Was ich schmecke und rieche vielleicht der Lyrik, die Temperaturempfindungen und das Tasten sind auch sprachlich ausdrückbar. Also eine neue Form von Gesamtkunstwerk.

R. S.: Kann man das nun nur im Grunde erfahren, nachvollziehen oder verstehen, wenn man an Ihren Orgien-Mysterien-Theatern in Prinzendorf teilnimmt? Denken Sie an den Besu­cher, der nach St. Petri kommt. Er hat die Aktionsbilder, Installationen, Relikte und Fotos, Katalog, die darauf hinweisen, aber können sie die Aktion ersetzen? Die Ausstellung geht mit der Kirche zusammen. Wie ist der Betrachter sensibilisiert mit seinem Sehen – die Augen sind’s mal wieder?-, wo bleiben die übrigen Sinne?

H. N.: Das ist ganz klar. Mein Theater ist das Zentrum meines Werkes. Es ist auch klar, dass eine Aktion oder Teile einer Aktion durch nichts ersetzt werden können. Ein kleines Moped ist kein Porsche, kein Mercedes. Alle Sachen sind das, was sie sind. Ein Relikt ist eben ein Relikt von einer Aktion, darauf hat sich seismographiert, was sich ereignete. Die Aktionsmalerei ist ein ganz wesentlicher Bestandteil meines Theaters. Ich sag immer wieder, meine Malerei ist die visuelle Grammatik meiner Aktionen, meines Aktionstheaters auf einer Bildfläche. Wenn ich eine Aktion mache, verlasse ich die Bildfläche, es wird keine Farbe mehr verwendet, es werden Blut, Fleisch, Eingeweide, Objekte und Substanzen, die zum starken, stärksten sinnlichen Empfinden oft bis zur Ekelschranke auffordern, verwendet. Es ist immer alles das, was es ist. Ich glaube gerade, dass man durch meine Malerei meine Aktionen sehr gut verstehen kann.

R. S.: Es ist eine Rückkopplung.

H. N.: Es hat etwas Didaktisches. Ich habe viele Leute über meine Malerei zu den Aktionen überreden können. Auf so einem Bild spielt sich das auf einer Bildfläche ab, was sich bei der Aktion abspielen wird. Wer lesen kann, kann es lesen. Meine Arbeit ist eben sehr vielfältig. Das Gesamtkunstwerk strahlt aus. Es strahlt aus meiner Musik, ich mache Orgelkonzerte. Es gibt Sinfonien von mir, die ganz ohne szenischen Hintergrund aufgeführt werden. Es gibt Ausstellungen von Fotos. Es gibt Videofilme. Ich hoffe, dass diese Installation hier ein selbständiges Kunstwerk sein wird, das aber immer wieder mein Theater demonstriert.

R. S.: Dann ist Petri so eine Art Bühnenbild aus gebautem Stein im weitesten Sinne für Sie. Die gotischen Kathedralen waren nicht von ungefähr Symbol des himmlischen Jerusalems auf Erden. Eine religiöse Steinpredigt der Vergangenheit, die heute noch wirkt.

H. N.: Das wird das Neue sein, das ich versuche, mein religiöses Empfinden, das meiner Bilder, hoffentlich mit dem Empfinden von vor 500 oder 600 Jahren, zu koppeln. Es soll sich zeigen, dass das religiöse Empfinden mehr oder weniger immer das gleiche ist. Ob ich nun Buddhist bin, ob man Lutheraner, ob Katholik oder Mohammedaner ist, das Entscheidende ist immer, dass alle Religionen versucht haben, Kontakt zum Ganzen zu finden.

R. S.: Schön! . . . Ungewöhnlich für die nördlichen Ausstellungspraktiken ist, dass Sie immer Blumen, Blumensträuße – möglichst in üppiger Blütenpracht – in Ihren Ausstellungen haben. Vor allem Rosen und Gladiolen. Die rote Rose ist oft dem roten Blut gleichgesetzt worden.

H. N.: Ich würde sagen, das ist alles Leben: Blumen ebenso wie Blut. Wir Menschen und Tiere haben dieses rote Blut in uns, das Blut des Gottes wird getrunken. Ich liebe es, mit Lebendigem zu arbeiten, und Blut ist für mich nicht nur der Saft des Leidens, sondern Blut ist auch der Saft des Lebens, des ewigen Lebens.

R. S.: Das ist eigentlich ein Schlusssatz … Könnten Sie sich denn vorstellen, dass in Ihrer Ausstellung ein richtiger Gottesdienst, eine katholische Messe zum Beispiel, stattfinden könnte? Ein in Installationen aufgefächerter Altar wäre da, Kelch, Monstranz, Altarbild . . .

H. N.: Ich bin vertraut mit der katholischen Liturgie. Das muss 1968 gewesen sein, da habe ich, was nicht im Widerspruch zum Christlichen stehen muss, so wie Bach eine katholische Messe geschrieben hat, mit den Mitteln neues Aktionstheater konzipiert. Ich habe so komponiert, wie der Mozart oder Haydn eine Messe komponierte, zwischendurch konnten Handlungen der Kirche stattfinden.

R. S.: Kennen Sie Otto Mauer noch, er war Priester und förderte die moderne Kunst in Wien?

H. N.: Er soll meine Arbeit geschätzt haben. Ich kenne sehr viele junge Theologen, die meine Arbeiten mögen. Was sie mir sagen, ist, dass die inhaltslosen und blass gewordenen Worte der Liturgie: Brot und Wein – Fleisch und Blut wieder versinnlicht werden. Ich zeige durch meine Arbeit wieder die Wurzeln. Wo die Sprache suspekt geworden ist, sollte sie nicht benutzt werden, und man sollte mehr zu sinnlichen Empfindungen zurückkehren. Deshalb gibt es in meinem Theater sehr viel Musik, kaum mehr ein Wort, weil mein Theater in einer Phase der Fragwürdigkeit der Sprache entstanden ist.

R. S.: Ein Dichter wo das Herz gleich schlägt, ist doch für Sie Hans Henny Jahnn.

H. N.: Ich schätze ihn sehr. Seine Auseinandersetzung mit elementar sinnlichen Dingen, mit dem Leid, mit der Sexualität, mit Erotik, auch mit dem Fleisch, mit dem Blut, mit den Eingeweiden ist mir nicht fremd. Immer wieder sadomasochistisches Erleben, Abstieg in die Exzesse.

R. S.: Künstlerisch fühlen Sie sich in der Tradition der Wiener Aktionisten. Wäre das ein künstlerischer Nenner für Sie?

H. N.: Ich würde sagen, ich fühle mich künstlerisch zu Hause in der Tradition der gesamten Kunst, die je gemacht wurde.

R. S.: Vielen Dank für das Gespräch. Ich freue mich auf Ihre Ausstellung im Sommer in St. Petri.

KUNST PRO ST. PETRI ST. PETRI LÜBECK

Hermann Nitsch: Passionen 1960-1990 Aktionsmalerei und Relikte, 15. Juli bis 31. August 1991

Fotos: Herbert Jäger, Lübeck (Farbaufnahmen)

Jo Marwitzky, Lübeck (Textfoto)

Auflage: 1000 Stück

Druck: LN-Druck Lübeck

Dank an Herrn Dr. Arend Oetker für die Ermöglichung dieses Druckes